Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand und sprach: “Seit die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter schlägt uns alle Tage und stößt uns mit den Füßen fort. Die harten Brotkrusten, die übrigbleiben, sind unsere Speise, und dem Hündchen unter dem Tisch geht’s besser, dem wirft sie doch manchmal einen guten Bissen zu. Daß Gott erbarm, wenn das unsere Mutter wüßte! Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen.”
Sie gingen den ganzen Tag, und wenn es regnete, sprach das Schwesterlein: “Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!” Abends kamen sie in einen großen Wald und waren so müde von Jammer, vom Hunger und von dem langen Weg, daß sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen.
Am andern Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel und schien heiß in den Baum hinein. Da sprach das Brüderchen: “Schwesterchen, mich dürstet, wenn ich ein Brünnlein wüßte, ich ging’ und tränk’ einmal; ich mein’, ich hört’ eins rauschen.”
Brüderchen stand auf, nahm Schwesterchen an der Hand, und sie wollten das Brünnlein suchen. Die böse Stiefmutter aber war eine Hexe und hatte wohl gesehen, wie die beiden Kinder fortgegangen waren, war ihnen nachgeschlichen, heimlich, wie die Hexen schleichen, und hatte alle Brunnen im Walde verwünscht.
Als sie nun ein Brünnlein fanden, das so glitzerig über die Steine sprang, wollte das Brüderchen daraus trinken; aber das Schwesterchen hörte, wie es im Rauschen sprach:
“Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger,
wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.”
Da rief das Schwesterchen: “Ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein wildes Tier und zerreißt mich.” Das Brüderchen trank nicht, obgleich es so großen Durst hatte, und sprach: “Ich will warten bis zur nächsten Quelle.”
Als sie zum zweiten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterchen, wie auch dieses sprach:
“Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf,
wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.”
Da rief das Schwesterchen: “Brüderchen, ich bitte dich, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frissest mich.” Das Brüderchen trank nicht und sprach: “Ich will warten, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muß ich trinken, du magst sagen, was du willst; mein Durst ist gar zu groß.”
Und als sie zum dritten Brünnlein kamen, hörte das Schwesterlein, wie es im Rauschen sprach:
“Wer aus mir trinkt, wird ein Reh,
wer aus mir trinkt, wird ein Reh.”
Das Schwesterchen sprach: “Ach, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir fort.” Aber das Brüderchen hatte sich gleich beim Brünnlein niedergekniet, und von dem Wasser getrunken, und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen waren, lag es da als ein Rehkälbchen.
Nun weinte das Schwesterchen über das arme verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch und Saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich: “Sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.” Dann band es sein goldenes Strumpfband ab und tat es dem Rehchen um den Hals und rupfte Binsen und flocht ein weiches Seil daraus. Daran band es das Tierchen und führte es weiter und ging immer tiefer in den Wald hinein.
Und als sie lange, lange gegangen waren, kamen sie endlich an ein kleines Haus, und das Mädchen schaute hinein, und weil es leer war, dachte es: “Hier können wir bleiben und wohnen.” Da suchte es dem Rehchen Laub und Moos zu einem weichen Lager, und jeden Morgen ging es aus und sammelte Wurzeln, Beeren und Nüsse, und für das Rehchen brachte es zartes Gras mit, war vergnügt und spielte vor ihm herum. Abends, wenn Schwesterchen müde war und sein Gebet gesagt hatte, legte es seinen Kopf auf den Rücken des Rehkälbchens, das war sein Kissen, darauf es sanft einschlief. Und hätte das Brüderchen nur seine menschliche Gestalt gehabt, es wäre ein herrliches Leben gewesen.
Das dauerte eine Zeitlang, daß sie so allein in der Wildnis waren. Es trug sich aber zu, daß der König des Landes eine große Jagd in dem Wald hielt. Da schallte das Hörnerblasen, Hundegebell und das lustige Geschrei der Jäger durch die Bäume, und das Rehlein hörte es und wäre gar zu gerne dabeigewesen.
“Ach”, sprach es zum Schwesterlein, “laß mich hinaus in die Jagd, ich kann’s nicht länger mehr aushalten”, und bat so lange, bis es einwilligte. “Aber”, sprach es zu ihm, “komm mir ja abends wieder, vor den wilden Jägern schließ’ ich mein Türlein; und damit ich dich kenne, so klopf und sprich: ‘Mein Schwesterlein, laß mich herein!’ Und wenn du nicht so sprichst, so schließ ich mein Türlein nicht auf.”
Nun sprang das Rehchen hinaus und es war ihm so wohl und es war so lustig in freier Luft. Der König und seine Jäger sahen das schöne Tier und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht einholen, und wenn sie meinten, sie hätten es gewiß, da sprang es über das Gebüsch weg und war verschwunden. Als es dunkel ward, lief es zu dem Häuschen, klopfte und sprach: “Mein Schwesterlein, laß mich herein.” Da ward ihm die kleine Tür aufgetan, es sprang hinein und ruhete sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus.
Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als das Rehlein wieder das Hifthorn hörte und das “Ho ho!” der Jäger, da hatte es keine Ruhe und sprach: “Schwesterchen, mach mir auf, ich muß hinaus.” Das Schwesterchen öffnete ihm die Tür und sprach: “Aber zu Abend mußt du wieder da sein und dein Sprüchlein sagen.” Als der König und seine Jäger das Rehlein mit dem goldenen Halsband wiedersahen, jagten sie ihm alle nach, aber es war ihnen zu schnell und behend. Das währte den ganzen Tag, endlich aber hatten es die Jäger abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am Fuß, so daß es hinken mußte und langsam fortlief.
Da schlich ihm ein Jäger nach bis zu dem Häuschen und hörte, wie es rief: “Mein Schwesterlein, laß mich herein”, und sah, daß die Tür ihm aufgetan und alsbald wieder zugeschlossen ward. Der Jäger ging zum König und erzählte ihm, was er gesehen und gehört hatte. Da sprach der König: “Morgen soll noch einmal gejagt werden.”
Das Schwesterchen aber erschrak gewaltig, als es sah, daß sein Rehkälbchen verwundet war. Es wusch ihm das Blut ab, legte Kräuter auf und sprach: “Geh auf dein Lager, lieb Rehchen, daß du wieder heil wirst.” Die Wunde aber war so gering, daß das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spürte. Und als es die Jagdlust wieder draußen hörte, sprach es: “Ich kann’s nicht aushalten, ich muß dabeisein!”
Das Schwesterchen weinte und sprach: “Nun werden sie dich töten, und ich bin hier allein im Wald und bin verlassen von aller Welt, ich lass’ dich nicht hinaus.”
“So sterb’ ich dir hier vor Betrübnis”, antwortete das Rehchen, “wenn ich das Hifthorn höre, so mein’ ich, ich müßt’ aus den Schuhen springen!”
Da konnte das Schwesterchen nicht anders und schloß ihm mit schwerem Herzen die Tür auf, und das Rehchen sprang gesund und fröhlich in den Wald. Als es der König erblickte, sprach er zu seinen Jägern: “Nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber daß ihm keiner etwas zuleide tut.” Sobald die Sonne untergegangen war, sprach der König zum Jäger: “Nun komm und zeige mir das Waldhäuschen.” Und als er vor dem Türlein war, klopfte er an und rief: “Lieb Schwesterlein, laß mich herein.”
Da ging die Tür auf, und der König trat herein, und da stand ein Mädchen, das war so schön, wie er noch keines gesehen hatte. Das Mädchen erschrak, als es sah, daß ein Mann hereinkam, der eine goldene Krone auf dem Haupt hatte. Aber der König sah es freundlich an, reichte ihm die Hand und sprach: “Willst du mit mir gehen auf mein Schloß und meine liebe Frau sein?”
“Ach ja”, antwortete das Mädchen, “aber das Rehchen muß auch mit, das verlass’ ich nicht.”
Sprach der König: “Es soll bei dir bleiben, solange du lebst, und es soll ihm an nichts fehlen.” Indem kam es hereingesprungen; da band es das Schwesterchen wieder an das Binsenseil, nahm es selbst in die Hand und ging mit ihm aus dem Waldhäuschen fort. Der König nahm das schöne Mädchen auf sein Pferd und führte es in sein Schloß, wo die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert wurde, und es war nun die Frau Königin, und sie lebten lange Zeit vergnügt zusammen; das Rehlein ward gehegt und gepflegt und sprang in dem Schloßgarten herum.
Die böse Stiefmutter aber, um derentwillen die Kinder in die Welt hineingegangen waren, die meinte nicht anders als, Schwesterchen wäre von den wilden Tieren im Walde zerrissen worden und Brüderchen als ein Rehkalb von den Jägern totgeschossen. Als sie nun hörte, daß sie so glücklich waren und es ihnen so wohlging, da wurden Neid und Mißgunst in ihrem Herzen rege und ließen ihr keine Ruhe, wie sie die beiden doch noch ins Unglück bringen könnte.
Ihre rechte Tochter, die häßlich war wie die Nacht und nur ein Auge hatte, die machte ihr Vorwürfe und sprach: Eine Königin zu werden, das Glück hätte mir gebührt.”
“Sei nur still”, sagte die Alte und sprach sie zufrieden, wenn’s Zeit ist, will ich schon bei der Hand sein.”
Als nun die Zeit herangerückt war und die Königin ein schönes Knäblein zur Welt gebracht hatte und der König gerade auf der Jagd war, nahm die alte Hexe die Gestalt der Kammerfrau an, trat in die Stube, wo die Königin lag, und sprach zu der Kranken: “Kommt, das Bad ist fertig, das wird Euch wohltun und frische Kräfte geben; geschwind, eh’ es kalt wird.” Ihre Tochter war auch bei der Hand, sie trugen die schwache Königin in die Badstube und legten sie in die Wanne. Dann schlossen sie die Türe ab und liefen davon. In der Badstube aber hatten sie ein rechtes Höllenfeuer angemacht, daß die schöne junge Königin bald ersticken mußte.
Als das vollbracht war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr eine Haube auf und legte sie ins Bett an der Königin Stelle. Sie gab ihr auch die Gestalt und das Ansehen der Königin; nur das verlorene Auge konnte sie ihr nicht wiedergeben. Damit es aber der König nicht merkte, mußte sie sich auf die Seite legen, wo sie kein Auge hatte. Am Abend, als er heimkam und hörte, daß ihm ein Söhnlein geboren war, freute er sich herzlich und wollte ans Bett seiner lieben Frau gehen und sehen, was sie machte. Da rief die Alte geschwind: “Beileibe, laßt die Vorhänge zu, die Königin darf noch nicht ins Licht sehen und muß Ruhe haben.” Der König ging zurück und wußte nicht, daß eine falsche Königin im Bette lag.
Als es aber Mitternacht war und alles schlief, da sah die Kinderfrau, die in der Kinderstube neben der Wiege saß und allein noch wachte, wie die Tür aufging und die rechte Königin hereintrat. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es in ihren Arm und gab ihm zu trinken. Dann schüttelte sie ihm sein Kißchen, legte es wieder hinein. Sie vergaß aber auch das Rehchen nicht, ging in die Ecke, wo es lag, und streichelte ihm über den Rücken. Darauf ging sie wieder zur Tür hinaus, und die Kinderfrau fragte am andern Morgen die Wächter, ob jemand während der Nacht ins Schloß gegangen wäre, aber sie antworteten: “Nein, wir haben niemand gesehen.” So kam sie viele Nächte und sprach niemals ein Wort dabei; die Kinderfrau sah sie immer, aber sie getraute sich nicht, jemand etwas davon zu sagen.
Als nun so eine Zeit verflossen war, da hub die Königin in der Nacht an zu reden und sprach:
“Was macht mein Kind?
Was macht mein Reh?
Nun komm’ ich noch zweimal
Und dann nimmermehr.”
Die Kinderfrau antwortete ihr nicht, aber als sie wieder verschwunden war, ging sie zum König und erzählte ihm alles. Sprach der König: “Ach Gott, was ist das? Ich will in der nächsten Nacht bei dem Kinde wachen.” Abends ging er in die Kinderstube, aber um Mitternacht erschien die Königin und sprach:
“Was macht mein Kind?
Was macht mein Reh?
Nun komm’ ich noch einmal
Und dann nimmermehr”
und pflegte dann das Kind, wie sie gewöhnlich tat, ehe sie verschwand. Der König getraute sich nicht, sie anzureden, aber er wachte auch in der folgenden Nacht. Sie sprach abermals:
“Was macht mein Kind?
Was macht mein Reh?
Nun komm’ ich noch diesmal
Und dann nimmermehr.”
Da konnte sich der König nicht zurückhalten, sprang zu ihr und sprach: “Du kannst niemand anders sein als meine liebe Frau.” Da antwortete sie: “Ja, ich bin deine liebe Frau”, und hatte in dem Augenblick durch Gottes Gnade das Leben wiedererhalten, war frisch, rot und gesund.
Darauf erzählte sie dem König den Frevel, den die böse Hexe und ihre Tochter an ihr verübt hatten. Der König ließ beide vor Gericht führen, und es ward ihnen das Urteil gesprochen. Die Tochter ward in den Wald geführt, wo sie die wilden Tiere zerrissen, die Hexe aber ward ins Feuer gelegt und mußte jammervoll verbrennen. Und wie sie zu Asche verbrannt war, verwandelte sich das Rehkälbchen und erhielt seine menschliche Gestalt wieder; Schwesterchen und Brüderchen aber lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende.
der Brüder Grimm
Es war einmal ein Mann, der hatte einen Esel, welcher schon lange Jahre unverdrossen die Säcke in die Mühle getragen hatte. Nun aber gingen die Kräfte des Esels zu Ende, so daß er zur Arbeit nicht mehr taugte. Da dachte der Herr daran, ihn wegzugehen. Aber der Esel merkte, daß sein Herr etwas Böses im Sinn hatte, lief fort und machte sich auf den Weg nach Bremen. Dort, so meinte er, könnte er ja Stadtmusikant werden.
Als er schon eine Weile gegangen war, fand er einen Jagdhund am Wege liegen, der jämmerlich heulte. “Warum heulst du denn so, Packan?” fragte der Esel.
“Ach”, sagte der Hund, “weil ich alt bin, jeden Tag schwächer werde und auch nicht mehr auf die Jagd kann, wollte mich mein Herr totschießen. Da hab ich Reißaus genommen. Aber womit soll ich nun mein Brot verdienen?”
“Weißt du, was”, sprach der Esel, “ich gehe nach Bremen und werde dort Stadtmusikant. Komm mit mir und laß dich auch bei der Musik annehmen. Ich spiele die Laute, und du schlägst die Pauken.” Der Hund war einverstanden, und sie gingen mitsammen weiter.
Es dauerte nicht lange, da sahen sie eine Katze am Wege sitzen, die machte ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. “Was ist denn dir in die Quere gekommen, alter Bartputzer?” fragte der Esel.
“Wer kann da lustig sein, wenn’s einem an den Kragen geht”, antwortete die Katze. “Weil ich nun alt bin, meine Zähne stumpf werden und ich lieber hinter dem Ofen sitze und spinne, als nach Mäusen herumjage, hat mich meine Frau ersäufen wollen. Ich konnte mich zwar noch davonschleichen, aber nun ist guter Rat teuer. Wo soll ich jetzt hin?”
“Geh mit uns nach Bremen! Du verstehst dich doch auf die Nachtmusik, da kannst du Stadtmusikant werden.”
Die Katze hielt das für gut und ging mit. Als die drei so miteinander gingen, kamen sie an einem Hof vorbei. Da saß der Haushahn auf dem Tor und schrie aus Leibeskräften. “Du schreist einem durch Mark und Bein”, sprach der Esel, “was hast du vor?”
“Die Hausfrau hat der Köchin befohlen, mir heute abend den Kopf abzusschlagen. Morgen, am Sonntag, haben sie Gäste, da wollen sie mich in der Suppe essen. Nun schrei ich aus vollem Hals, solang ich noch kann.”
“Ei was” sagte der Esel, “zieh lieber mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall. Du hast eine gute Stimme, und wenn wir mitsammen musizieren, wird es gar herrlich klingen.”
Dem Hahn gefiel der Vorschlag, und sie gingen alle vier mitsammen fort. Sie konnten aber die Stadt Bremen an einem Tag nicht erreichen und kamen abends in einen Wald, wo sie übernachten wollten. Der Esel und der Hund legten sich unter einen großen Baum, die Katze kletterte auf einen Ast, und der Hahn flog bis in den Wipfel, wo es am sichersten für ihn war.
Ehe er einschlief, sah er sich noch einmal nach allen vier Windrichtungen um. Da bemerkte er einen Lichtschein. Er sagte seinen Gefährten, daß in der Nähe ein Haus sein müsse, denn er sehe ein Licht.
Der Esel antwortete: “So wollen wir uns aufmachen und noch hingehen, denn hier ist die Herberge schlecht.” Der Hund meinte, ein paar Knochen und etwas Fleisch daran täten ihm auch gut.
Also machten sie sich auf den Weg nach der Gegend, wo das Licht war. Bald sahen sie es heller schimmern, und es wurde immer größer, bis sie vor ein hellerleuchtetes Räuberhaus kamen. Der Esel, als der größte, näherte sich dem Fenster und schaute hinein.
“Was siehst du, Grauschimmel?” fragte der Hahn.
“Was ich sehe?” antwortete der Esel. “Einen gedeckten Tisch mit schönem Essen und Trinken, und Räuber sitzen rundherum und lassen sich’s gutgehen!”
“Das wäre etwas für uns”, sprach der Hahn.
Da überlegten die Tiere, wie sie es anfangen könnten, die Räuber hinauszujagen. Endlich fanden sie ein Mittel. Der Esel stellte sich mit den Vorderfüßen auf das Fenster, der Hund sprang auf des Esels Rücken, die Katze kletterte auf den Hund, und zuletzt flog der Hahn hinauf und setzte sich der Katze auf den Kopf. Als das geschehen war, fingen sie auf ein Zeichen an, ihre Musik zu machen: der Esel schrie, der Hund bellte, die Katze miaute, und der Hahn krähte. Darauf stürzten sie durch das Fenster in die Stube hinein, daß die Scheiben klirrten.
Die Räuber fuhren bei dem entsetzlichen Geschrei in die Höhe. Sie meinten, ein Gespenst käme herein, und flohen in größter Furcht in den Wald hinaus.
Nun setzten sie die vier Gesellen an den Tisch, und jeder aß nach Herzenslust von den Speisen, die ihm am besten schmeckten.
Als sie fertig waren, löschten sie das Licht aus, und jeder suchte sich eine Schlafstätte nach seinem Geschmack. Der Esel legte sich auf den Mist, der Hund hinter die Tür, die Katze auf den Herd bei der warmen Asche, und der Hahn flog auf das Dach hinauf. Und weil sie müde waren von ihrem langen Weg, schliefen sie bald ein.
Als Mitternacht vorbei war und die Räuber von weitem sahen, daß kein Licht mehr im Haus brannte und alles ruhig schien, sprach der Hauptmann: “Wir hätten uns doch nicht sollen ins Bockshorn jagen lassen.” Er schickte einen Räuber zurück, um nachzusehen, ob noch jemand im Hause wäre.
Der Räuber fand alles still. Er ging in die Küche und wollte ein Licht anzünden. Da sah er die feurigen Augen der Katze und meinte, es wären glühende Kohlen. Er hielt ein Schwefelhölzchen daran, daß es Feuer fangen sollte. Aber die Katze verstand keinen Spaß, sprang ihm ins Gesicht und kratzte ihn aus Leibeskräften. Da erschrak er gewaltig und wollte zur Hintertür hinauslaufen. Aber der Hund, der da lag, sprang auf und biß ihn ins Bein. Als der Räuber über den Hof am Misthaufen vorbeirannte, gab ihm der Esel noch einen tüchtigen Schlag mit dem Hinterfuß. Der Hahn aber, der von dem Lärm aus dem Schlaf geweckt worden war, rief vom Dache herunter: “Kikeriki!”
Da lief der Räuber, was er konnte, zu seinem Hauptmann zurück und sprach: “Ach, in dem Haus sitzt eine greuliche Hexe, die hat mich angehaucht und mir mit ihren langen Fingern das Gesicht zerkratzt. An der Tür steht ein Mann mit einem Messer, der hat mich ins Bein gestochen. Auf dem Hof liegt ein schwarzes Ungetüm, das hat mit einem Holzprügel auf mich losgeschlagen. Und oben auf dem Dache, da sitzt der Richter, der rief: ‘Bringt mir den Schelm her!’ Da machte ich, daß ich fortkam.”
Von nun an getrauten sich die Räuber nicht mehr in das Haus. Den vier Bremer Stadtmusikanten aber gefiel’s darin so gut, daß sie nicht wieder hinaus wollten.
der Brüder Grimm
In einer Gegend des Harzes wohnte ein Ritter, den man gewöhnlich nur den blonden Eckbert nannte. Er war ohngefähr vierzig Jahr alt, kaum von mittler Größe, und kurze hellblonde Haare lagen schlicht und dicht an seinem blassen eingefallenen Gesichte. Er lebte sehr ruhig für sich und war niemals in den Fehden seiner Nachbarn verwickelt, auch sah man ihn nur selten außerhalb den Ringmauern seines kleinen Schlosses. Sein Weib liebte die Einsamkeit ebensosehr, und beide schienen sich von Herzen zu lieben, nur klagten sie gewöhnlich darüber, daß der Himmel ihre Ehe mit keinen Kindern segnen wolle.
Nur selten wurde Eckbert von Gästen besucht, und wenn es auch geschah, so wurde ihretwegen fast nichts in dem gewöhnlichen Gange des Lebens geändert, die Mäßigkeit wohnte dort, und die Sparsamkeit selbst schien alles anzuordnen. Eckbert war alsdann heiter und aufgeräumt, nur wenn er allein war, bemerkte man an ihm eine gewisse Verschlossenheit, eine stille zurückhaltende Melancholie.
Niemand kam so häufig auf die Burg als Philipp Walther, ein Mann, dem sich Eckbert angeschlossen hatte, weil er an diesem ohngefähr dieselbe Art zu denken fand, der auch er am meisten zugetan war. Dieser wohnte eigentlich in Franken, hielt sich aber oft über ein halbes Jahr in der Nähe von Eckberts Burg auf, sammelte Kräuter und Steine, und beschäftigte sich damit, sie in Ordnung zu bringen, er lebte von einem kleinen Vermögen und war von niemand abhängig. Eckbert begleitete ihn oft auf seinen einsamen Spaziergängen, und mit jedem Jahre entspann sich zwischen ihnen eine innigere Freundschaft.
Es gibt Stunden, in denen es den Menschen ängstigt, wenn er vor seinem Freunde ein Geheimnis haben soll, was er bis dahin oft mit vieler Sorgfalt verborgen hat, die Seele fühlt dann einen unwiderstehlichen Trieb, sich ganz mitzuteilen, dem Freunde auch das Innerste aufzuschließen, damit er um so mehr unser Freund werde. In diesen Augenblicken geben sich die zarten Seelen einander zu erkennen, und zuweilen geschieht es wohl auch, daß einer vor der Bekanntschaft des andern zurückschreckt.
Es war schon im Herbst, als Eckbert an einem neblichten Abend mit seinem Freunde und seinem Weibe Bertha um das Feuer eines Kamines saß. Die Flamme warf einen hellen Schein durch das Gemach und spielte oben an der Decke, die Nacht sah schwarz zu den Fenstern herein, und die Bäume draußen schüttelten sich vor nasser Kälte. Walther klagte über den weiten Rückweg, den er habe, und Eckbert schlug ihm vor, bei ihm zu bleiben, die halbe Nacht unter traulichen Gesprächen hinzubringen, und dann in einem Gemache des Hauses bis am Morgen zu schlafen. Walther ging den Vorschlag ein, und nun ward Wein und die Abendmahlzeit hereingebracht, das Feuer durch Holz vermehrt, und das Gespräch der Freunde heitrer und vertraulicher.
Als das Abendessen abgetragen war, und sich die Knechte wieder entfernt hatten, nahm Eckbert die Hand Walthers und sagte: “Freund, Ihr solltet Euch einmal von meiner Frau die Geschichte ihrer Jugend erzählen lassen, die seltsam genug ist.”
“Gern” , sagte Walther, und man setzte sich wieder um den Kamin.
Es war jetzt gerade Mitternacht, der Mond sah abwechselnd durch die vorüberflatternden Wolken. “Ihr müßt mich nicht für zudringlich halten” , fing Bertha an, “mein Mann sagt, daß Ihr so edel denkt, daß es unrecht sei, Euch etwas zu verhehlen. Nur haltet meine Erzählung für kein Märchen, so sonderbar sie auch klingen mag.
“Ich bin in einem Dorfe geboren, mein Vater war ein armer Hirte. Die Haushaltung bei meinen Eltern war nicht zum besten bestellt, sie wußten sehr oft nicht, wo sie das Brot hernehmen sollten. Was mich aber noch weit mehr jammerte, war, daß mein Vater und meine Mutter sich oft über ihre Armut entzweiten, und einer dem andern dann bittere Vorwürfe machte. Sonst hört ich beständig von mir, daß ich ein einfältiges dummes Kind sei, das nicht das unbedeutendste Geschäft auszurichten wisse, und wirklich war ich äußerst ungeschickt und unbeholfen, ich ließ alles aus den Händen fallen, ich lernte weder nähen noch spinnen, ich konnte nichts in der Wirtschaft helfen, nur die Not meiner Eltern verstand ich sehr gut. Oft saß ich dann im Winkel und füllte meine Vorstellungen damit an, wie ich ihnen helfen wollte, wenn ich plötzlich reich würde, wie ich sie mit Gold und Silber überschütten und mich an ihrem Erstaunen laben möchte, dann sah ich Geister heraufschweben, die mir unterirdische Schätze entdeckten, oder mir kleine Kiesel gaben, die sich in Edelsteine verwandelten, kurz, die wunderbarsten Phantasien beschäftigten mich, und wenn ich nun aufstehn mußte, um irgend etwas zu helfen, oder zu tragen, so zeigte ich mich noch viel ungeschickter, weil mir der Kopf von allen den seltsamen Vorstellungen schwindelte.
“Mein Vater war immer sehr ergrimmt auf mich, daß ich eine so ganz unnütze Last des Hauswesens sei, er behandelte mich daher oft ziemlich grausam, und es war selten, daß ich ein freundliches Wort von ihm vernahm. So war ich ungefähr acht Jahr alt geworden, und es wurden nun ernstliche Anstalten gemacht, daß ich etwas tun, oder lernen sollte. Mein Vater glaubte, es wäre nur Eigensinn oder Trägheit von mir, um meine Tage in Müßiggang hinzubringen, genug, er setzte mir mit Drohungen unbeschreiblich zu, da diese aber doch nichts fruchteten, züchtigte er mich auf die grausamste Art, indem er sagte, daß diese Strafe mit jedem Tage wiederkehren sollte, weil ich doch nur ein unnützes Geschöpf sei.
“Die ganze Nacht hindurch weint ich herzlich, ich fühlte mich so außerordentlich verlassen, ich hatte ein solches Mitleid mit mir selber, daß ich zu sterben wünschte. Ich fürchtete den Anbruch des Tages, ich wußte durchaus nicht, was ich anfangen sollte, ich wünschte mir alle mögliche Geschicklichkeit und konnte gar nicht begreifen, warum ich einfältiger sei, als die übrigen Kinder meiner Bekanntschaft. Ich war der Verzweiflung nahe.
“Als der Tag graute, stand ich auf und eröffnete, fast ohne daß ich es wußte, die Tür unsrer kleinen Hütte. Ich stand auf dem freien Felde, bald darauf war ich in einem Walde, in den der Tag kaum noch hineinblickte. Ich lief immerfort, ohne mich umzusehn, ich fühlte keine Müdigkeit, denn ich glaubte immer, mein Vater würde mich noch wieder einholen, und, durch meine Flucht gereizt, mich noch grausamer behandeln.
“Als ich aus dem Walde wieder heraustrat, stand die Sonne schon ziemlich hoch, ich sah jetzt etwas Dunkles vor mir liegen, welches ein dichter Nebel bedeckte. Bald mußte ich über Hügel klettern, bald durch einen zwischen Felsen gewundenen Weg gehn, und ich erriet nun, daß ich mich wohl in dem benachbarten Gebirge befinden müsse, worüber ich anfing mich in der Einsamkeit zu fürchten. Denn ich hatte in der Ebene noch keine Berge gesehn, und das bloße Wort Gebirge, wenn ich davon hatte reden hören, war meinem kindischen Ohr ein fürchterlicher Ton gewesen. Ich hatte nicht das Herz zurückzugehn, meine Angst trieb mich vorwärts; oft sah ich mich erschrocken um, wenn der Wind über mir weg durch die Bäume fuhr, oder ein ferner Holzschlag weit durch den stillen Morgen hintönte. Als mir Köhler und Bergleute endlich begegneten und ich eine fremde Aussprache hörte, wäre ich vor Entsetzen fast in Ohnmacht gesunken.
“Ich kam durch mehrere Dörfer und bettelte, weil ich jetzt Hunger und Durst empfand, ich half mir so ziemlich mit meinen Antworten durch, wenn ich gefragt wurde. So war ich ohngefähr vier Tage fortgewandert, als ich auf einen kleinen Fußsteig geriet, der mich von der großen Straße immer mehr entfernte. Die Felsen um mich her gewannen jetzt eine andre, weit seltsamere Gestalt. Es waren Klippen, so aufeinandergepackt, daß es das Ansehn hatte, als wenn sie der erste Windstoß durcheinanderwerfen würde. Ich wußte nicht, ob ich weitergehn sollte. Ich hatte des Nachts immer im Walde geschlafen, denn es war gerade zur schönsten Jahrszeit, oder in abgelegenen Schäferhütten; hier traf ich aber gar keine menschliche Wohnung, und konnte auch nicht vermuten, in dieser Wildnis auf eine zu stoßen; die Felsen wurden immer furchtbarer, ich mußte oft dicht an schwindlichten Abgründen vorbeigehn, und endlich hörte sogar der Weg unter meinen Füßen auf. Ich war ganz trostlos, ich weinte und schrie, und in den Felsentälern hallte meine Stimme auf eine schreckliche Art zurück. Nun brach die Nacht herein, und ich suchte mir eine Moosstelle aus, um dort zu ruhn. Ich konnte nicht schlafen; in der Nacht hörte ich die seltsamsten Töne, bald hielt ich es für wilde Tiere, bald für den Wind, der durch die Felsen klage, bald für fremde Vögel. Ich betete, und ich schlief nur spät gegen Morgen ein.
“Ich erwachte, als mir der Tag ins Gesicht schien. Vor mir war ein steiler Felsen, ich kletterte in der Hoffnung hinauf, von dort den Ausgang aus der Wildnis zu entdecken, und vielleicht Wohnungen oder Menschen gewahr zu werden. Als ich aber oben stand, war alles, so weit nur mein Auge reichte, ebenso, wie um mich her, alles war mit einem neblichten Dufte überzogen, der Tag war grau und trübe, und keinen Baum, keine Wiese, selbst kein Gebüsch konnte mein Auge erspähn, einzelne Sträucher ausgenommen, die einsam und betrübt in engen Felsenritzen emporgeschossen waren. Es ist unbeschreiblich, welche Sehnsucht ich empfand, nur eines Menschen ansichtig zu werden, wäre es auch, daß ich mich vor ihm hätte fürchten müssen. Zugleich fühlte ich einen peinigenden Hunger, ich setzte mich nieder und beschloß zu sterben. Aber nach einiger Zeit trug die Lust zu leben dennoch den Sieg davon, ich raffte mich auf und ging unter Tränen, unter abgebrochenen Seufzern den ganzen Tag hindurch; am Ende war ich mir meiner kaum noch bewußt, ich war müde und erschöpft, ich wünschte kaum noch zu leben, und fürchtete doch den Tod.
“Gegen Abend schien die Gegend umher etwas freundlicher zu werden, meine Gedanken, meine Wünsche lebten wieder auf, die Lust zum Leben erwachte in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt das Gesause einer Mühle aus der Ferne zu hören, ich verdoppelte meine Schritte, und wie wohl, wie leicht ward mir, als ich endlich wirklich die Grenzen der öden Felsen erreichte; ich sah Wälder und Wiesen mit fernen angenehmen Bergen wieder vor mir liegen. Mir war, als wenn ich aus der Hölle in ein Paradies getreten wäre, die Einsamkeit und meine Hülflosigkeit schienen mir nun gar nicht fürchterlich.
“Statt der gehofften Mühle stieß ich auf einen Wasserfall, der meine Freude freilich um vieles minderte; ich schöpfte mit der Hand einen Trunk aus dem Bache, als mir plötzlich war, als höre ich in einiger Entfernung ein leises Husten. Nie bin ich so angenehm überrascht worden, als in diesem Augenblick, ich ging näher und ward an der Ecke des Waldes eine alte Frau gewahr, die auszuruhen schien. Sie war fast ganz schwarz gekleidet und eine schwarze Kappe bedeckte ihren Kopf und einen großen Teil des Gesichtes, in der Hand hielt sie einen Krückenstock.
“Ich näherte mich ihr und bat um ihre Hülfe; sie ließ mich neben sich niedersetzen und gab mir Brot und etwas Wein. Indem ich aß, sang sie mit kreischendem Ton ein geistliches Lied. Als sie geendet hatte, sagte sie mir, ich möchte ihr folgen.
“Ich war über diesen Antrag sehr erfreut, so wunderlich mir auch die Stimme und das Wesen der Alten vorkam. Mt ihrem Krückenstocke ging sie ziemlich behende, und bei jedem Schritte verzog sie ihr Gesicht so, daß ich im Anfange darüber lachen mußte. Die wilden Felsen traten immer weiter hinter uns zurück, wir gingen über eine angenehme Wiese, und dann durch einen ziemlich langen Wald. Als wir heraustraten, ging die Sonne gerade unter, und ich werde den Anblick und die Empfindung dieses Abends nie vergessen. In das sanfteste Rot und Gold war alles verschmolzen, die Bäume standen mit ihren Wipfeln in der Abendröte, und über den Feldern lag der entzückende Schein, die Wälder und die Blätter der Bäume standen still, der reine Himmel sah aus wie ein aufgeschlossenes Paradies, und das Rieseln der Quellen und von Zeit zu Zeit das Flüstern der Bäume tönte durch die heitre Stille wie in wehmütiger Freude. Meine junge Seele bekam jetzt zuerst eine Ahndung von der Welt und ihren Begebenheiten. Ich vergaß mich und meine Führerin, mein Geist und meine Augen schwärmten nur zwischen den goldnen Wolken.
“Wir stiegen nun einen Hügel hinan, der mit Birken bepflanzt war, von oben sah man in ein grünes Tal voller Birken hinein, und unten mitten in den Bäumen lag eine kleine Hütte. Ein munteres Bellen kam uns entgegen, und bald sprang ein kleiner behender Hund die Alte an, und wedelte, dann kam er zu mir, besah mich von allen Seiten, und kehrte mit freundlichen Gebärden zur Alten zurück.
“Als wir vom Hügel heruntergingen, hörte ich einen wunderbaren Gesang, der aus der Hütte zu kommen schien, wie von einem Vogel, es sang also:
Waldeinsamkeit,
Die mich erfreut,
So morgen wie heut
In ewger Zeit,
O wie mich freut
Waldeinsamkeit.
“Diese wenigen Worte wurden beständig wiederholt; wenn ich es beschreiben soll, so war es fast, als wenn Waldhorn und Schalmeie ganz in der Ferne durcheinanderspielen.
“Meine Neugier war außerordentlich gespannt; ohne daß ich auf den Befehl der Alten wartete, trat ich mit in die Hütte. Die Dämmerung war schon eingebrochen, alles war ordentlich aufgeräumt, einige Becher standen auf einem Wandschranke, fremdartige Gefäße auf einem Tische, in einem glänzenden Käfig hing ein Vogel am Fenster, und er war es wirklich, der die Worte sang. Die Alte keichte und hustete, sie schien sich gar nicht wieder erholen zu können, bald streichelte sie den kleinen Hund, bald sprach sie mit dem Vogel, der ihr nur mit seinem gewöhnlichen Liede Antwort gab; übrigens tat sie gar nicht, als wenn ich zugegen wäre. Indem ich sie so betrachtete, überlief mich mancher Schauer: denn ihr Gesicht war in einer ewigen Bewegung, indem sie dazu wie vor Alter mit dem Kopfe schüttelte, so daß ich durchaus nicht wissen konnte, wie ihr eigentliches Aussehn beschaffen war.
“Als sie sich erholt hatte, zündete sie Licht an, deckte einen ganz kleinen Tisch und trug das Abendessen auf. Jetzt sah sie sich nach mir um, und hieß mir einen von den geflochtenen Rohrstühlen nehmen. So saß ich ihr nun dicht gegenüber und das Licht stand zwischen uns. Sie faltete ihre knöchernen Hände und betete laut, indem sie ihre Gesichtsverzerrungen machte, so daß es mich beinahe wieder zum Lachen gebracht hätte; aber ich nahm mich sehr in acht, um sie nicht zu erbosen.
“Nach dem Abendessen betete sie wieder, und dann wies sie mir in einer niedrigen und engen Kammer ein Bett an; sie schlief in der Stube. Ich blieb nicht lange munter, ich war halb betäubt, aber in der Nacht wachte ich einigemal auf, und dann hörte ich die Alte husten und mit dem Hunde sprechen, und den Vogel dazwischen, der im Traum zu sein schien, und immer nur einzelne Worte von seinem Liede sang. Das machte mit den Birken, die vor dem Fenster rauschten, und mit dem Gesang einer entfernten Nachtigall ein so wunderbares Gemisch, daß es mir immer nicht war, als sei ich erwacht, sondern als fiele ich nur in einen andern noch seltsamem Traum.
“Am Morgen weckte mich die Alte, und wies mich bald nachher zur Arbeit an. Ich mußte spinnen, und ich begriff es auch bald, dabei hatte ich noch für den Hund und für den Vogel zu sorgen. Ich lernte mich schnell in die Wirtschaft finden, und alle Gegenstände umher wurden mir bekannt; nun war mir, als müßte alles so sein, ich dachte gar nicht mehr daran, daß die Alte etwas Seltsames an sich habe, daß die Wohnung abenteuerlich und von allen Menschen entfernt liege, und daß an dem Vogel etwas Außerordentliches sei. Seine Schönheit fiel mir zwar immer auf, denn seine Federn glänzten mit allen möglichen Farben, das schönste Hellblau und das brennendste Rot wechselten an seinem Halse und Leibe, und wenn er sang, blähte er sich stolz auf, so daß sich seine Federn noch prächtiger zeigten.
“Oft ging die Alte aus und kam erst am Abend zurück, ich ging ihr dann mit dem Hunde entgegen, und sie nannte mich Kind und Tochter. Ich ward ihr endlich von Herzen gut, wie sich unser Sinn denn an alles, besonders in der Kindheit, gewöhnt. In den Abendstunden lehrte sie mich lesen, ich fand mich leicht in die Kunst, und es ward nachher in meiner Einsamkeit eine Quelle von unendlichem Vergnügen, denn sie hatte einige alte geschriebene Bücher, die wunderbare Geschichten enthielten.
“Die Erinnerung an meine damalige Lebensart ist mir noch bis jetzt immer seltsam: von keinem menschlichen Geschöpfe besucht, nur in einem so kleinen Familienzirkel einheimisch, denn der Hund und der Vogel machten denselben Eindruck auf mich, den sonst nur längst gekannte Freunde hervorbringen. Ich habe mich immer nicht wieder auf den seltsamen Namen des Hundes besinnen können, sooft ich ihn auch damals nannte.
“Vier Jahre hatte ich so mit der Alten gelebt, und ich mochte ohngefähr zwölf Jahr alt sein, als sie mir endlich mehr vertraute, und mir ein Geheimnis entdeckte. Der Vogel legte nämlich an jedem Tage ein Ei, in dem sich eine Perl oder ein Edelstein befand. Ich hatte schon immer bemerkt, daß sie heimlich in dem Käfige wirtschafte, mich aber nie genauer darum bekümmert. Sie trug mir jetzt das Geschäft auf, in ihrer Abwesenheit diese Eier zu nehmen und in den fremdartigen Gefäßen wohl zu verwahren. Sie ließ mir meine Nahrung zurück, und blieb nun länger aus, Wochen, Monate; mein Rädchen schnurrte, der Hund bellte, der wunderbare Vogel sang und dabei war alles so still in der Gegend umher, daß ich mich in der ganzen Zeit keines Sturmwindes, keines Gewitters erinnere. Kein Mensch verirrte sich dorthin, kein Wild kam unserer Behausung nahe, ich war zufrieden und arbeitete mich von einem Tage zum andern hinüber. – Der Mensch wäre vielleicht recht glücklich, wenn er so ungestört sein Leben bis ans Ende fortfahren könnte.
“Aus dem wenigen, was ich las, bildete ich mir ganz wunderliche Vorstellungen von der Welt und den Menschen, alles war von mir und meiner Gesellschaft hergenommen: wenn von lustigen Leuten die Rede war, konnte ich sie mir nicht anders vorstellen wie den kleinen Spitz, prächtige Damen sahen immer wie der Vogel aus, alle alte Frauen wie meine wunderliche Alte. Ich hatte auch von Liebe etwas gelesen, und spielte nun in meiner Phantasie seltsame Geschichten mit mir selber. Ich dachte mir den schönsten Ritter von der Welt, ich schmückte ihn mit allen Vortrefflichkeiten aus, ohne eigentlich zu wissen, wie er nun nach allen meinen Bemühungen aussah – aber ich konnte ein rechtes Mitleid mit mir selber haben, wenn er mich nicht wieder liebte; dann sagte ich lange rührende Reden in Gedanken her, zuweilen auch wohl laut, um ihn nur zu gewinnen. – Ihr lächelt! wir sind jetzt freilich alle über diese Zeit der Jugend hinüber.
“Es war mir jetzt lieber, wenn ich allein war, denn alsdann war ich selbst die Gebieterin im Hause. Der Hund liebte mich sehr und tat alles was ich wollte, der Vogel antwortete mir in seinem Liede auf alle meine Fragen, mein Rädchen drehte sich immer munter, und so fühlte ich im Grunde nie einen Wunsch nach Veränderung. Wenn die Alte von ihren langen Wanderungen zurückkam, lobte sie meine Aufmerksamkeit, sie sagte, daß ihre Haushaltung, seit ich dazugehöre, weit ordentlicher geführt werde, sie freute sich über mein Wachstum und mein gesundes Aussehn, kurz, sie ging ganz mit mir wie mit einer Tochter um.
“‘Du bist brav, mein Kind!’ sagte sie einst zu mir mit einem schnurrenden Tone; ‘wenn du so fortfährst, wird es dir auch immer gut gehn: aber nie gedeiht es, wenn man von der rechten Bahn abweicht, die Strafe folgt nach, wenn auch noch so spät.’ – Indem sie das sagte, achtete ich eben nicht sehr darauf, denn ich war in allen meinen Bewegungen und meinem ganzen Wesen sehr lebhaft; aber in der Nacht fiel es mir wieder ein, und ich konnte nicht begreifen, was sie damit hatte sagen wollen. Ich überlegte alle Worte genau, ich hatte wohl von Reichtümern gelesen, und am Ende fiel mir ein, daß ihre Perlen und Edelsteine wohl etwas Kostbares sein könnten. Dieser Gedanke wurde mir bald noch deutlicher. Aber was konnte sie mit der rechten Bahn meinen? Ganz konnte ich den Sinn ihrer Worte noch immer nicht fassen.
“Ich war jetzt vierzehn Jahr alt, und es ist ein Unglück für den Menschen, daß er seinen Verstand nur darum bekömmt, um die Unschuld seiner Seele zu verlieren. Ich begriff nämlich wohl, daß es nur auf mich ankomme, in der Abwesenheit der Alten den Vogel und die Kleinodien zu nehmen, und damit die Welt, von der ich gelesen hatte, aufzusuchen. Zugleich war es mir dann vielleicht möglich, den überaus schönen Ritter anzutreffen, der mir immer noch im Gedächtnisse lag.
“Im Anfange war dieser Gedanke nichts weiter als jeder andre Gedanke, aber wenn ich so an meinem Rade saß, so kam er mir immer wider Willen zurück, und ich verlor mich so in ihm, daß ich mich schon herrlich geschmückt sah, und Ritter und Prinzen um mich her. Wenn ich mich so vergessen hatte, konnte ich ordentlich betrübt werden, wenn ich wieder aufschaute, und mich in der kleinen Wohnung antraf. Übrigens, wenn ich meine Geschäfte tat, bekümmerte sich die Alte nicht weiter um mein Wesen.
“An einem Tage ging meine Wirtin wieder fort, und sagte mir, daß sie diesmal länger als gewöhnlich ausbleiben werde, ich solle ja auf alles ordentlich achtgeben und mir die Zeit nicht lang werden lassen. Ich nahm mit einer gewissen Bangigkeit von ihr Abschied, denn es war mir, als würde ich sie nicht wiedersehn. Ich sah ihr lange nach und wußte selbst nicht, warum ich so beängstigt war; es war fast, als wenn mein Vorhaben schon vor mir stände, ohne mich dessen deutlich bewußt zu sein.
“Nie hab ich des Hundes und des Vogels mit einer solchen Emsigkeit gepflegt, sie lagen mir näher am Herzen, als sonst. Die Alte war schon einige Tage abwesend, als ich mit dem festen Vorsatze aufstand, mit dem Vogel die Hütte zu verlassen, und die sogenannte Welt aufzusuchen. Es war mir enge und bedrängt zu Sinne, ich wünschte wieder dazubleiben, und doch war mir der Gedanke widerwärtig; es war ein seltsamer Kampf in meiner Seele, wie ein Streiten von zwei widerspenstigen Geistern in mir. In einem Augenblicke kam mir die ruhige Einsamkeit so schön vor, dann entzückte mich wieder die Vorstellung einer neuen Welt, mit allen ihren wunderbaren Mannigfaltigkeiten.
“Ich wußte nicht, was ich aus mir selber machen sollte, der Hund sprang mich unaufhörlich an, der Sonnenschein breitete sich munter über die Felder aus, die grünen Birken funkelten: ich hatte die Empfindung, als wenn ich etwas sehr Eiliges zu tun hätte, ich griff also den kleinen Hund, band ihn in der Stube fest, und nahm dann den Käfig mit dem Vogel unter den Arm. Der Hund krümmte sich und winselte über diese ungewohnte Behandlung, er sah mich mit bittenden Augen an, aber ich fürchtete mich, ihn mit mir zu nehmen. Noch nahm ich eins von den Gefäßen, das mit Edelsteinen angefüllt war, und steckte es zu mir, die übrigen ließ ich stehn. Der Vogel drehte den Kopf auf eine wunderliche Weise, als ich mit ihm zur Tür hinaustrat, der Hund strengte sich sehr an, mir nachzukommen, aber er mußte zurückbleiben.
“Ich vermied den Weg nach den wilden Felsen und ging nach der entgegengesetzten Seite. Der Hund bellte und winselte immerfort, und es rührte mich recht inniglich, der Vogel wollte einigemal zu singen anfangen, aber da er getragen ward, mußte es ihm wohl unbequem fallen. So wie ich weiter ging, hörte ich das Bellen immer schwächer, und endlich hörte es ganz auf. Ich weinte und wäre beinahe wieder umgekehrt, aber die Sucht etwas Neues zu sehn, trieb mich vorwärts.
“Schon war ich über Berge und durch einige Wälder gekommen, als es Abend ward, und ich in einem Dorfe einkehren mußte. Ich war sehr blöde, als ich in die Schenke trat, man wies mir eine Stube und ein Bette an, ich schlief ziemlich ruhig, nur daß ich von der Alten träumte, die mir drohte.
“Meine Reise war ziemlich einförmig, aber je weiter ich ging, je mehr ängstigte mich die Vorstellung von der Alten und dem kleinen Hunde; ich dachte daran, daß er wahrscheinlich ohne meine Hülfe verhungern müsse, im Walde glaubt ich oft, die Alte würde mir plötzlich entgegentreten. So legte ich unter Tränen und Seufzern den Weg zurück; sooft ich ruhte, und den Käfig auf den Boden stellte, sang der Vogel sein wunderliches Lied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des schönen verlassenen Aufenthalts. Wie die menschliche Natur vergeßlich ist, so glaubt ich jetzt, meine vormalige Reise in der Kindheit sei nicht so trübselig gewesen als meine jetzige; ich wünschte wieder in derselben Lage zu sein.
“Ich hatte einige Edelsteine verkauft und kam nun nach einer Wanderschaft von vielen Tagen in einem Dorfe an. Schon beim Eintritt ward mir wundersam zumute, ich erschrak und wußte nicht worüber; aber bald erkannt ich mich, denn es war dasselbe Dorf, in welchem ich geboren war. Wie ward ich überrascht! Wie liefen mir vor Freuden, wegen tausend seltsamer Erinnerungen, die Tränen von den Wangen! Vieles war verändert, es waren neue Häuser entstanden, andre, die man damals erst errichtet hatte, waren jetzt verfallen, ich traf auch Brandstellen; alles war weit kleiner, gedrängter als ich erwartet hatte. Unendlich freute ich mich darauf, meine Eltern nun nach so manchen Jahren wiederzusehn; ich fand das kleine Haus, die wohlbekannte Schwelle, der Griff der Tür war noch ganz so wie damals, es war mir, als hätte ich sie nur gestern angelehnt; mein Herz klopfte ungestüm, ich öffnete sie hastig – aber ganz fremde Gesichter saßen in der Stube umher und stierten mich an. Ich fragte nach dem Schäfer Martin, und man sagte mir, er sei schon seit drei Jahren mit seiner Frau gestorben. – Ich trat schnell zurück, und ging laut weinend aus dem Dorfe hinaus.
“Ich hatte es mir so schön gedacht, sie mit meinem Reichtume zu überraschen; durch den seltsamsten Zufall war das nun wirklich geworden, was ich in der Kindheit immer nur träumte – und jetzt war alles umsonst, sie konnten sich nicht mit mir freuen, und das, worauf ich am meisten immer im Leben gehofft hatte, war für mich auf ewig verloren.
“In einer angenehmen Stadt mietete ich mir ein kleines Haus mit einem Garten, und nahm eine Aufwärterin zu mir. So wunderbar, als ich es vermutet hatte, kam mir die Welt nicht vor, aber ich vergaß die Alte und meinen ehemaligen Aufenthalt etwas mehr, und so lebt ich im ganzen recht zufrieden.
“Der Vogel hatte schon seit lange nicht mehr gesungen; ich erschrak daher nicht wenig, als er in einer Nacht plötzlich wieder anfing, und zwar mit einem veränderten Liede. Er sang:
Waldeinsamkeit
Wie liegst du weit!
O dich gereut
Einst mit der Zeit. –
Ach einzge Freud
Waldeinsamkeit!
“Ich konnte die Nacht hindurch nicht schlafen, alles fiel mir von neuem in die Gedanken, und mehr als jemals fühlt ich, daß ich Unrecht getan hatte. Als ich aufstand, war mir der Anblick des Vogels ordentlich zuwider, er sah immer nach mir hin, und seine Gegenwart ängstigte mich. Er hörte nun mit seinem Liede gar nicht wieder auf, und er sang es lauter und schallender, als er es sonst gewohnt gewesen war. Je mehr ich ihn betrachtete, je bänger machte er mich; ich öffnete endlich den Käfig, steckte die Hand hinein und faßte seinen Hals, herzhaft drückte ich die Finger zusammen, er sah mich bittend an, ich ließ los, aber er war schon gestorben. – Ich begrub ihn im Garten.
“Jetzt wandelte mich oft eine Furcht vor meiner Aufwärterin an, ich dachte an mich selbst zurück, und glaubte, daß sie mich auch einst berauben oder wohl gar ermorden könne. – Schon lange kannt ich einen jungen Ritter, der mir überaus gefiel, ich gab ihm meine Hand – und hiermit, Herr Walther, ist meine Geschichte geendigt.”
“Ihr hättet sie damals sehn sollen” , fiel Eckbert hastig ein “ihre Jugend, ihre Schönheit, und welch einen unbeschreiblichen Reiz ihr ihre einsame Erziehung gegeben hatte. Sie kam mir vor wie ein Wunder, und ich liebte sie ganz über alles Maß. Ich hatte kein Vermögen, aber durch ihre Liebe kam ich in diesen Wohlstand, wir zogen hieher, und unsere Verbindung hat uns bis jetzt noch keinen Augenblick gereut.”
“Aber über unser Schwatzen” , fing Bertha wieder an, “ist es schon tief in die Nacht geworden – wir wollen uns schlafen legen.”
Sie stand auf und ging nach ihrer Kammer. Walther wünschte ihr mit einem Handkusse eine gute Nacht, und sagte: “Edle Frau, ich danke Euch, ich kann mir Euch recht vorstellen, mit dem seltsamen Vogel, und wie Ihr den kleinen Strohmian füttert.”
Auch Walther legte sich schlafen, nur Eckbert ging noch unruhig im Saale auf und ab.
“Ist der Mensch nicht ein Tor?” fing er endlich an; “ich bin erst die Veranlassung, daß meine Frau ihre Geschichte erzählt, und jetzt gereut mich diese Vertraulichkeit! – Wird er sie nicht mißbrauchen? Wird er sie nicht andern mitteilen? Wird er nicht vielleicht, denn das ist die Natur des Menschen, eine unselige Habsucht nach unsern Edelgesteinen empfinden, und deswegen Plane anlegen und sich verstellen?”
Es fiel ihm ein, daß Walther nicht so herzlich von ihm Abschied genommen hatte, als es nach einer solchen Vertraulichkeit wohl natürlich gewesen wäre. Wenn die Seele erst einmal zum Argwohn gespannt ist, so trifft sie auch in allen Kleinigkeiten Bestätigungen an. Dann warf sich Eckbert wieder sein unedles Mißtrauen gegen seinen wackern Freund vor, und konnte doch nicht davon zurückkehren. Er schlug sich die ganze Nacht mit diesen Vorstellungen herum, und schlief nur wenig.
Bertha war krank und konnte nicht zum Frühstück erscheinen; Walther schien sich nicht viel darum zu kümmern, und verließ auch den Ritter ziemlich gleichgültig. Eckbert konnte sein Betragen nicht begreifen; er besuchte seine Gattin, sie lag in einer Fieberhitze und sagte, die Erzählung in der Nacht müsse sie auf diese Art gespannt haben.
Seit diesem Abend besuchte Walther nur selten die Burg seines Freundes, und wenn er auch kam, ging er nach einigen unbedeutenden Worten wieder weg. Eckbert ward durch dieses Betragen im äußersten Grade gepeinigt; er ließ sich zwar gegen Bertha und Walther nichts davon merken, aber jeder mußte doch seine innerliche Unruhe an ihm gewahr werden.
Mit Berthas Krankheit ward es immer bedenklicher; der Arzt ward ängstlich, die Röte von ihren Wangen war verschwunden, und ihre Augen wurden immer glühender.
An einem Morgen ließ sie ihren Mann an ihr Bette rufen, die Mägde mußten sich entfernen.
“Lieber Mann” , fing sie an, “ich muß dir etwas entdecken, das mich fast um meinen Verstand gebracht hat, das meine Gesundheit zerrüttet, so eine unbedeutende Kleinigkeit es auch an sich scheinen möchte. – Du weißt, daß ich mich immer nicht, sooft ich von meiner Kindheit sprach, trotz aller angewandten Mühe auf den Namen des kleinen Hundes besinnen konnte, mit welchem ich so lange umging; an jenem Abend sagte Walther beim Abschiede plötzlich zu mir: “Ich kann mir Euch recht vorstellen, wie Ihr den kleinen Strohmian füttert.” Ist das Zufall? Hat er den Namen erraten, weiß er ihn und hat er ihn mit Vorsatz genannt? Und wie hängt dieser Mensch dann mit meinem Schicksale zusammen? Zuweilen kämpfe ich mit mir, als ob ich mir diese Seltsamkeit nur einbilde, aber es ist gewiß, nur zu gewiß. Ein gewaltiges Entsetzen befiel mich, als mir ein fremder Mensch so zu meinen Erinnerungen half. Was sagst du, Eckbert?”
Eckbert sah seine leidende Gattin mit einem tiefen Gefühle an; er schwieg und dachte bei sich nach, dann sagte er ihr einige tröstende Worte und verließ sie. In einem abgelegenen Gemache ging er in unbeschreiblicher Unruhe auf und ab. Walther war seit vielen Jahren sein einziger Umgang gewesen, und doch war dieser Mensch jetzt der einzige in der Welt, dessen Dasein ihn drückte und peinigte. Es schien ihm, als würde ihm froh und leicht sein, wenn nur dieses einzige Wesen aus seinem Wege gerückt werden könnte. Er nahm seine Armbrust, um sich zu zerstreuen und auf die Jagd zu gehn.
Es war ein rauher stürmischer Wintertag, tiefer Schnee lag auf den Bergen und bog die Zweige der Bäume nieder. Er streifte umher, der Schweiß stand ihm auf der Stirne, er traf auf kein Wild, und das vermehrte seinen Unmut. Plötzlich sah er sich etwas in der Ferne bewegen, es war Walther, der Moos von den Bäumen sammelte; ohne zu wissen was er tat, legte er an, Walther sah sich um, und drohte mit einer stummen Gebärde, aber indem flog der Bolzen ab, und Walther stürzte nieder.
Eckbert fühlte sich leicht und beruhigt, und doch trieb ihn ein Schauder nach seiner Burg zurück; er hatte einen großen Weg zu machen, denn er war weit hinein in die Wälder verirrt. Als er ankam, war Bertha schon gestorben; sie hatte vor ihrem Tode noch viel von Walther und der Alten gesprochen.
Eckbert lebte nun eine lange Zeit in der größten Einsamkeit; er war schon sonst immer schwermütig gewesen, weil ihn die seltsame Geschichte seiner Gattin beunruhigte, und er irgendeinen unglücklichen Vorfall, der sich ereignen könnte, befürchtete: aber jetzt war er ganz mit sich zerfallen. Die Ermordung seines Freundes stand ihm unaufhörlich vor Augen, er lebte unter ewigen innern Vorwürfen.
Um sich zu zerstreuen, begab er sich zuweilen nach der nächsten großen Stadt, wo er Gesellschaften und Feste besuchte. Er wünschte durch irgendeinen Freund die Leere in seiner Seele auszufüllen, und wenn er dann wieder an Walther zurückdachte, so erschrak er vor dem Gedanken, einen Freund zu finden, denn er war überzeugt, daß er nur unglücklich mit jedwedem Freunde sein könne. Er hatte so lange mit Bertha in einer schönen Ruhe gelebt, die Freundschaft Walthers hatte ihn so manches Jahr hindurch beglückt, und jetzt waren beide so plötzlich dahingerafft, daß ihm sein Leben in manchen Augenblicken mehr wie ein seltsames Märchen, als wie ein wirklicher Lebenslauf erschien.
Ein junger Ritter, Hugo, schloß sich an den stillen betrübten Eckbert, und schien eine wahrhafte Zuneigung gegen ihn zu empfinden. Eckbert fand sich auf eine wunderbare Art überrascht, er kam der Freundschaft des Ritters um so schneller entgegen, je weniger er sie vermutet hatte. Beide waren nun häufig beisammen, der Fremde erzeigte Eckbert alle möglichen Gefälligkeiten, einer ritt fast nicht mehr ohne den andern aus; in allen Gesellschaften trafen sie sich, kurz, sie schienen unzertrennlich.
Eckbert war immer nur auf kurze Augenblicke froh, denn er fühlte es deutlich, daß ihn Hugo nur aus einem Irrtume liebe; jener kannte ihn nicht, wußte seine Geschichte nicht, und er fühlte wieder denselben Drang, sich ihm ganz mitzuteilen, damit er versichert sein könne, ob jener auch wahrhaft sein Freund sei. Dann hielten ihn wieder Bedenklichkeiten und die Furcht, verabscheut zu werden, zurück. In manchen Stunden war er so sehr von seiner Nichtswürdigkeit überzeugt, daß er glaubte, kein Mensch, für den er nicht ein völliger Fremdling sei, könne ihn seiner Achtung würdigen. Aber dennoch konnte er sich nicht widerstehn; auf einem einsamen Spazierritte entdeckte er seinem Freunde seine ganze Geschichte, und fragte ihn dann, ob er wohl einen Mörder lieben könne. Hugo war gerührt, und suchte ihn zu trösten; Eckbert folgte ihm mit leichterm Herzen zur Stadt.
Es schien aber seine Verdammnis zu sein, gerade in der Stunde des Vertrauens Argwohn zu schöpfen, denn kaum waren sie in den Saal getreten, als ihm beim Schein der vielen Lichter die Mienen seines Freundes nicht gefielen. Er glaubte ein hämisches Lächeln zu bemerken, es fiel ihm auf, daß er nur wenig mit ihm spreche, daß er mit den Anwesenden viel rede, und seiner gar nicht zu achten scheine. Ein alter Ritter war in der Gesellschaft, der sich immer als den Gegner Eckberts gezeigt, und sich oft nach seinem Reichtum und seiner Frau auf eine eigne Weise erkundigt hatte; zu diesem gesellte sich Hugo, und beide sprachen eine Zeitlang heimlich, indem sie nach Eckbert hindeuteten. Dieser sah jetzt seinen Argwohn bestätigt, er glaubte sich verraten, und eine schreckliche Wut bemeisterte sich seiner. Indem er noch immer hinstarrte, sah er plötzlich Walthers Gesicht, alle seine Mienen, die ganze, ihm so wohlbekannte Gestalt, er sah noch immer hin und ward überzeugt, daß niemand als Walther mit dem Alten spreche. Sein Entsetzen war unbeschreiblich; außer sich stürzte er hinaus, verließ noch in der Nacht die Stadt, und kehrte nach vielen Irrwegen auf seine Burg zurück.
Wie ein unruhiger Geist eilte er jetzt von Gemach zu Gemach, kein Gedanke hielt ihm stand, er verfiel von entsetzlichen Vorstellungen auf noch entsetzlichere, und kein Schlaf kam in seine Augen. Oft dachte er, daß er wahnsinnig sei, und sich nur selber durch seine Einbildung alles erschaffe; dann erinnerte er sich wieder der Züge Walthers, und alles ward ihm immer mehr ein Rätsel. Er beschloß eine Reise zu machen, um seine Vorstellungen wieder zu ordnen; den Gedanken an Freundschaft, den Wunsch nach Umgang hatte er nun auf ewig aufgegeben.
Er zog fort, ohne sich einen bestimmten Weg vorzusetzen, ja er betrachtete die Gegenden nur wenig, die vor ihm lagen. Als er im stärksten Trabe seines Pferdes einige Tage so fortgeeilt war, sah er sich plötzlich in einem Gewinde von Felsen verirrt, in denen sich nirgend ein Ausweg entdecken ließ. Endlich traf er auf einen alten Bauer, der ihm einen Pfad, einem Wasserfall vorüber, zeigte: er wollte ihm zur Danksagung einige Münzen geben, der Bauer aber schlug sie aus.
“Was gilt’s” , sagte Eckbert zu sich selber, “ich könnte mir wieder einbilden, daß dies niemand anders als Walther sei.”
Und indem sah er sich noch einmal um, und es war niemand anders als Walther.
Eckbert spornte sein Roß so schnell es nur laufen konnte, durch Wiesen und Wälder, bis es erschöpft unter ihm zusammenstürzte. Unbekümmert darüber setzte er nun seine Reise zu Fuß fort.
Er stieg träumend einen Hügel hinan; es war, als wenn er ein nahes munteres Bellen vernahm, Birken säuselten dazwischen, und er hörte mit wunderlichen Tönen ein Lied singen:
Waldeinsamkeit
Mich wieder freut,
Mir geschieht kein Leid,
Hier wohnt kein Neid,
Von neuem mich freut
Waldeinsamkeit.
Jetzt war es um das Bewußtsein, um die Sinne Eckberts geschehn; er konnte sich nicht aus dem Rätsel herausfinden, ob er jetzt träume, oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumt habe; das Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert, und er keines Gedankens, keiner Erinnerung mächtig.
Eine krummgebückte Alte schlich hustend mit einer Krücke den Hügel heran.
“Bringst du mir meinen Vogel? Meine Perlen? Meinen Hund?” schrie sie ihm entgegen. “Siehe, das Unrecht bestraft sich selbst: Niemand als ich war dein Freund Walther, dein Hugo.”
“Gott im Himmel!” sagte Eckbert stille vor sich hin – “in welcher entsetzlichen Einsamkeit hab ich dann mein Leben hingebracht! “
“Und Bertha war deine Schwester.”
Eckbert fiel zu Boden.
“Warum verließ sie mich tückisch? Sonst hätte sich alles gut und schön geendet, ihre Probezeit war ja schon vorüber. Sie war die Tochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehn ließ, die Tochter deines Vaters.”
“Warum hab ich diesen schrecklichen Gedanken immer geahndet?” rief Eckbert aus.
“Weil du in früher Jugend deinen Vater einst davon erzählen hörtest; er durfte seiner Frau wegen diese Tochter nicht bei sich erziehn lassen, denn sie war von einem andern Weibe.”
Eckbert lag wahnsinnig und verscheidend auf dem Boden; dumpf und verworren hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen, und den Vogel sein Lied wiederholen.
Ludwig Tieck
Am Fuße der Alpen bei Locarno im oberen Italien befand sich ein altes, einem Marchese gehöriges Schloß, das man jetzt, wenn man vom St. Gotthard kommt, in Schutt und Trümmern liegen sieht: ein Schloß mit hohen und weitläufigen Zimmern, in deren einem einst auf Stroh, das man ihr unterschüttete, eine alte kranke Frau, die sich bettelnd vor der Tür eingefunden hatte, von der Hausfrau aus Mitleiden gebettet worden war.
Der Marchese, der bei der Rückkehr von der Jagd zufällig in das Zimmer trat, wo er seine Büchse abzusetzen pflegte, befahl der Frau unwillig, aus dem Winkel, in welchem sie lag, aufzustehn und sich hinter den Ofen zu verfügen. Die Frau, da sie sich erhob, glitschte mit der Krücke auf dem glatten Boden aus und beschädigte sich auf eine gefährliche Weise das Kreuz; dergestalt, daß sie zwar noch mit unsäglicher Mühe aufstand und quer, wie es ihr vorgeschrieben war, über das Zimmer ging, hinter dem Ofen aber unter Stöhnen und Ächzen niedersank und verschied.
Mehrere Jahre nachher, da der Marchese durch Krieg und Mißwachs in bedenkliche Vermögensumstände geraten war, fand sich ein florentinischer Ritter bei ihm ein, der das Schloß seiner schönen Lage wegen von ihm kaufen wollte. Der Marchese, dem viel an dem Handel gelegen war, gab seiner Frau auf, den Fremden in dem obenerwähnten leerstehenden Zimmer, das sehr schön und prächtig eingerichtet war, unterzubringen.
Aber wie betreten war das Ehepaar, als der Ritter mitten in der Nacht verstört und bleich zu ihnen herunterkam, hoch und teuer versichernd, daß es in dem Zimmer spuke, indem etwas, das dem Blick unsichtbar gewesen, mit einem Geräusch, als ob es auf Stroh gelegen, im Zimmerwinkel aufgestanden mit vernehmlichen Schritten langsam und gebrechlich quer über drei Zimmer gegangen und hinter dem Ofen unter Stöhnen und Ächzen niedergesunken sei.
Der Marchese, erschrocken, er wußte selbst nicht recht warum, lachte den Ritter mit erkünstelter Heiterkeit aus und sagte, er wolle sogleich aufstehen und die Nacht zu seiner Beruhigung mit ihm in dem Zimmer zubringen. Doch der Ritter bat um die Gefälligkeit, ihm zu erlauben, daß er auf einem Lehnstuhl in seinem Schlafzimmer übernachte; und als der Morgen kam, ließ er anspannen, empfahl sich und reiste ab.
Dieser Vorfall, der außerordentliches Aufsehen machte, schreckte auf eine dem Marchese höchst unangenehme Weise mehrere Käufer ab; dergestalt, daß, da sich unter seinem eignen Hausgesinde, befremdend und unbegreiflich, das Gerücht erhob, daß es in dem Zimmer zur Mitternachtstunde umgehe, er, um es mit einem entscheidenden Verfahren niederzuschlagen, beschloß, die Sache in der nächsten Nacht selbst zu untersuchen.
Demnach ließ er beim Einbruch der Dämmerung sein Bett in dem besagten Zimmer aufschlagen und erharrte, ohne zu schlafen, die Mitternacht. Aber wie erschüttert war er, als er in der Tat mit dem Schlage der Geisterstunde das unbegreifliche Geräusch wahrnahm; es war, als ob ein Mensch sich von Stroh, das unter ihm knisterte, erhob, quer über das Zimmer ging, und hinter dem Ofen unter Geseufz und Geröchel niedersank. Die Marquise, am andern Morgen, da er herunterkam, fragte ihn, wie die Untersuchung abgelaufen; und da er sich mit scheuen und ungewissen Blicken umsah und, nachdem er die Tür verriegelt, versicherte, daß es mit dem Spuk seine Richtigkeit habe: so erschrak sie, wie sie in ihrem Leben nicht getan und bat ihn, bevor er die Sache verlauten ließe, sie noch einmal in ihrer Gesellschaft einer kaltblütigen Prüfung zu unterwerfen.
Sie hörten aber samt einem treuen Bedienten, den sie mitgenommen hatten, in der Tat in der nächsten Nacht dasselbe unbegreifliche, gespensterartige Geräusch; und nur der dringende Wunsch, das Schloß, es koste was es wolle, loszuwerden, vermochte sie, das Entsetzen, das sie ergriff, in Gegenwart ihres Dieners zu unterdrücken und dem Vorfall irgendeine gleichgültige und zufällige Ursache, die sich entdecken lassen müsse, unterzuschieben.
Am Abend des dritten Tages, da beide, um der Sache auf den Grund zu kommen, mit Herzklopfen wieder die Treppe zu dem Fremdenzimmer bestiegen, fand sich zufällig der Haushund, den man von der Kette losgelassen hatte, vor der Tür desselben ein; dergestalt daß beide, ohne sich bestimmt zu erklären, vielleicht in der unwillkürlichen Absicht, außer sich selbst noch etwas Drittes, Lebendiges, bei sich zu haben, den Hund mit sich in das Zimmer nahmen. Das Ehepaar, zwei Lichter auf dem Tisch, die Marquise unausgezogen, der Marchese Degen und Pistolen, die er aus dem Schrank genommen, neben sich, setzen sich gegen elf Uhr jeder auf sein Bett; und während sie sich mit Gesprächen, so gut sie vermögen, zu unterhalten suchen, legt sich der Hund, Kopf und Beine zusammengekauert, in der Mitte des Zimmers nieder und schläft ein.
Drauf, in dem Augenblick der Mitternacht, läßt sich das entsetzliche Geräusch wieder hören; jemand, den kein Mensch mit Augen sehen kann, hebt sich auf Krücken im Zimmerwinkel empor; man hört das Stroh, das unter ihm rauscht; und mit dem ersten Schritt: tapp! tapp! erwacht der Hund, hebt sich plötzlich, die Ohren spitzend, vom Boden empor, und knurrend und bellend, grad’ als ob ein Mensch auf ihn eingeschritten käme, rückwärts gegen den Ofen weicht er aus. Bei diesem Anblick stürzt die Marquise mit sträubenden Haaren aus dem Zimmer; und während der Marchese, der den Degen ergriffen: »Wer da?« ruft, und, da ihm niemand antwortet, gleich einem Rasenden nach allen Richtungen die Luft durchhaut, läßt sie anspannen, entschlossen, augenblicklich nach der Stadt abzufahren. Aber ehe sie noch nach Zusammenraffung einiger Sachen aus dem Tore herausgerasselt, sieht sie schon das Schloß ringsum in Flammen aufgehen.
Der Marchese, von Entsetzen überreizt, hatte eine Kerze genommen und dasselbe, überall mit Holz getäfelt wie es war, an allen vier Ecken, müde seines Lebens, angesteckt. Vergebens schickte sie Leute hinein, den Unglücklichen zu retten; er war auf die elendiglichste Weise bereits umgekommen; und noch jetzt liegen, von den Landleuten zusammengetragen, seine weißen Gebeine in dem Winkel des Zimmers, von welchem er das Bettelweib von Locarno hatte aufstehen heißen.
Heinrich von Kleist
Glücklich möchten alle Menschen werden. Wenn sie reich wären, würden sie auch glücklich sein, meinen die meisten, meinen, Glück und Geld verhielten sich zusammen wie die Kartoffel zur Kartoffelstaude, die Wurzel zur Pflanze. Wie irren sie sich doch gröblich, wie wenig verstehen sie sich auf das Wesen der Menschen und haben es doch täglich vor Augen!
Die Heilige Schrift sagt, denen, die Gott lieben, täten alle Dinge zum Besten dienen, und so ist es auch. Geld ist und bleibt Geld, aber die Herzen, mit denen es zusammenkommt, sind so gar verschieden; daher erwächst aus den verschiedenen Ehen von Herz und Geld ein so verschiedenes Leben, und je nach diesem Leben bringt das Geld Glück oder Unglück. Aufs Herz kommt es an, ob man durch Geld glücklich oder unglücklich werde. Klar hat Gott eigentlich dies an die Sonne gelegt, aber leider sehen die Menschen gar selten klar die klarsten Dinge, machen sie vielmehr dunkel mit ihrer selbstgemachten Weisheit. Am Besenbinder von Rychiswyl greifen wir aus den hundert Exempeln, an welchen wir die obige Wahrheit angeschaut, eins heraus, welches ein Herz zeigen soll, dem Geld Glück brachte.
Besen sind bekanntlich ein schreiendes Bedürfnis der Zeit und waren das freilich schon seit langen Zeiten. Derartige Bedürfnisse, die täglich und wöchentlich befriedigt sein wollen, gibt es viele in jedem Haus und allenthalben Menschen, welche es sich freiwillig zur angenehmen Pflicht machen, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Immer weniger achtet man der Personen, welche dieses tun, wenn man nur das Nötige kriegt und so wohlfeil als möglich. Ehedem war es nicht so: ehedem ward das Besenmannli, das Eierfraueli, das Tuft- oder Sandmeitschi usw. so gleichsam zur Familie gerechnet; es war ein festes Verhältnis, man kannte die Tage, an welchen die Personen erschienen; je nachdem sie in Hulden standen, ward ihnen etwas Absonderliches verabreicht, und fehlten sie um einen Tag, so entschuldigten sie sich das nächste Mal, als hätten sie eine Sünde begangen, und sprachen von ihrem Kummer, man möchte vielleicht geglaubt haben, sie kämen nicht mehr, und sich daher anderweitig versorgt. Sie betrachteten ihre Häuser als die Sterne an ihrem Himmel, gaben sich alle Mühe, sie gut zu bedienen, und wenn sie mit diesem Gewerbe aufhörten oder sich selbst auf einen höheren Zweig beförderten, so gaben sie sich alle Mühe, einem Kinde, einer Base, einem Vetter oder sonst so wem zu ihrer Stelle zu verhelfen. Es war da ein gegenseitig Band von Anhänglichkeit und Vertrauen, welches leider in unserer kalten Zeit, wo alle Familienwärme sich immer mehr verflüchtigt, immer lockerer und loser wird.
Ein solcher Hausfreund war der Besenmann von Rychiswyl, der viel in Bern zu sehen, so recht eigentlich aber in Thun angesehen und beliebt war. An kleineren Orten gestalten sich alle Verhältnisse viel inniger, einzelne Persönlichkeiten werden mehr bemerkt und gelten auch mehr. Eher hätte der Samstag im Kalender gefehlt als an einem Samstag das Besenmannli in Thun. Er war nicht immer das Besenmannli gewesen, sondern lange, lange nur der Besenbub, bis man dahinterkam, daß der Besenbub Kinder hatte, die an seinem Karren stoßen konnten.
Sein Vater war ein alter Soldat gewesen und früh gestorben; er war jung, seine Mutter kränklich, Vermögen hatten sie nicht, und betteln gingen sie nicht gerne. Eine ältere Schwester war schon früher ausgewandert, barfuß, und hatte bei einer Frau, welche Tannzapfen und Sägemehl nach Bern trug, ein Unterkommen gefunden. Als sie sich ihre Sporen, das heißt Schuhe und Strümpfe verdient hatte, beförderte sie sich und ward Hühnermagd bei einem Pächter auf einem herrschaftlichen Gute in der Nähe der Stadt. Mutter und Bruder waren stolz auf sie und redeten mit Respekt von dem vornehmen Bäbeli. Hansli konnte die Mutter nicht verlassen, die mußte jemand haben, der ihr für Holz sorgte und sonst half. Sie lebten von Gott und guten Leuten, aber bös.
Da sagte einmal der Bauer, bei dem sie im Haus waren, zu Hansli: “Bub, es dünkt mich, du solltest was verdienen, wärst groß und listig genug.”
“Wollte gerne”, sagte Hansli, “wenn ich nur wüßte, wie?”
“Ich wüßte dir was, worin ein schöner Kreuzer Geld wäre; fange an, mit Besen zu machen! In meiner Weide ist Besenreis genug, es wird mir nur gestohlen, und kosten soll es dich nichts als alle Jahre ein paar Besen.”
“Ja, das wäre wohl gut, aber wo soll ich das Besenmachen lernen?” sagte Hansli.
“Das ist kein Hexenwerk”, sagte der Bauer, “das will ich dich schon lehren, machte viele Jahre alle Besen, welche wir brauchen, selbst und wills mit allen Besenbindern probieren. Das Werkzeug ist eine geringe Sache, und bis dus selbst anzuschaffen vermagst, kannst das meine brauchen.”
So geschah es auch, und Glück und Gottes Segen war dabei. Hansli hatte großen Trieb zur Sache und der Bauer große Freude an Hansli.
“Spar nicht, mach dSach recht! Mußt machen, daß du das Zutrauen bekommst; hast das einmal, so ist der Handel gewonnen”, mahnte der Bauer immer, und Hansli tat darnach.
Natürlich ging es im Anfang langsam zu, aber er setzte doch immer sein Fabrikat ab, und im Verhältnis, als es ihm besser von der Hand ging, nahm auch der Absatz zu. Es hieß bald, es habe niemand so brave Besen wie der Besenbub von Rychiswyl. Je augenscheinlicher der gute Erfolg wurde, desto größer ward auch Hanslis Eifer. Seine Mutter lebte sichtbar auf. Jetzt sei es gewonnen, sagte sie; sobald man sein ehrlich Brot verdienen könne, habe man Ursache, zufrieden zu sein, was wolle man mehr? Sie hatte nun alle Tage genug zu essen, gewöhnlich noch was übrig für den folgenden Tag, konnte alle Tage Brot essen, wenn sie wollte. Ja es war schon geschehen, daß Hansli ihr ein weißes Mütschli heimgebracht aus der Stadt. Wie sie so wohl dran lebte, und wie sie Gott dankte, daß er ihr in ihren alten Tagen ein solches Guthaben geordnet!
Hansli dagegen machte seit einiger Zeit ein sauer Gesicht, endlich fing er an zu muckeln, so könne es nicht länger gehen, so stehe er es nicht aus. Als ihn endlich der Bauer fragte, was das bedeuten solle, und was er eigentlich meine, kam es heraus, daß er nicht imstande sei, die Besen zu tragen; auch wenn sie ihm der Müller zuweilen führe, so sei es ihm sehr unkommod, er sollte notwendig einen Karren haben, die Besen zu ziehen, das gehe ringer, und er komme weiter. Er habe aber das Geld nicht dazu und wisse niemand, der ihm es leihen würde.
“Bist ein dummer Bub!” sagte der Bauer. “Hör du, werde mir nicht einer von denen, welche meinen, wenn ihnen was durch den Kopf schieße, müsse es angeschafft sein! So kann man das Geld brauchen und andern die Fische ins Netz jagen. Jawolle, du einen Karren kaufen! Mach einen!”
Mit offenem Maul und Augen, in denen das Weinen im Anzuge stand, sah Hansli den Bauer an.
“Ja, mach einen, das bringst zweg, wenn du nur willst und Fleiß hast!” fuhr der Bauer fort. “Du kannst ziemlich schnitzeln, und was du nicht weißt, kann ich dich brichten. Das Holz wird dich nicht viel kosten; was ich nicht habe, hat ein anderer Bauer, kannst Besen dafür geben. Zum Beschläg wird sich altes Eisen wohl auch finden in einer Kammer. Wir haben auch noch so ein alt Karrli irgendwo; wollen es hervorreißen, kannst es wohl ins Auge fassen und einstweilen meinethalb brauchen. Der Winter ist vor der Türe, dann kannst dran gehen, im Frühjahr ists fix und fertig, und nicht manchen Batzen hast dafür ausgegeben. Kannst es vielleicht auch beim Schmied mit Besen machen, und vielleicht kann man es ohne Schmied auch machen, wer weiß.”
Jetzt machte Hansli wieder große Augen: er und einen Karren machen!
“Was denkst, wie wollte ich das können, habe ja noch nie einen gemacht!”
“Du dummer Bub!” fuhr der Bauer auf; “einmal muß immer das erste sein, kuraschiert dran hin, so ist es halb gemacht. Glaubs, wenn die Leute das rechte Kurasch hätten, es säße mancher, der als Bettler herumläuft, im Gelde bis über die Ohren und nicht etwa gestohlenes, sondern rechtmäßig erworbenes.”
Hansli hätte fast den Bauer fragen mögen, ob er Verstand habe oder Leinen. Es kam ihm vor, als täte er ihm ein großes Unrecht an, so was ihm zuzumuten.
Indessen der Gedanke ergriff doch Hansli; Hansli ging sachte drauf ein, ungefähr wie ein Kind in kaltes Wasser. Der Bauer half, und im Frühjahr war der neue Karren fix und fertig, am Dienstag nach Ostern zog ihn Hansli zum erstenmal nach Bern, am Samstag darauf zum erstenmal nach Thun. Was Hansli für einen Stolz hatte und für eine Freude an seinem neuen Karren, davon kann sich schwerlich jemand eine richtige Vorstellung machen. Wenn man ihm auch den Ostermontagstier, der tags zuvor in Bern herumgeführt worden war und wohl seine fünfundzwanzig Zentner wog, zum Tausch angeboten, er hätte das Anerbieten mit großem Hohn von der Hand gewiesen. Es schien ihm, als stünden alle Leute still und schauten auf seinen Karren, und, wo er zu Platz kommen konnte mit Reden, da zeigte er mit beredter Zunge alle Vorteile, welche dieser Karren vor allen habe, welche bisher auf der Welt gewesen. Er behauptete mit großer Bestimmtheit, er gehe ganz von selbst; nur bergan müsse man etwas nachhelfen. Eine Köchin sagte, sie hätte nicht geglaubt, daß er so geschickt wäre; wenn sie einen Karren nötig hätte, er müßte ihr auch einen machen. Diese Köchin erhielt, sooft sie ihm Besen abkaufte, zwei ganz kleine Handbeselchen für den Herd obendrein; die sind sehr kommod für Köchinnen, welche auch die Ecken gerne rein haben. Da sind die, welche sich auch an den Werktagen waschen und sogar hinter den Ohren, so gar häufig sind die aber nicht.
Erst jetzt kam Hansli so recht in Eifer, sein Karren war ihm sein Bauernhof, und er war fleißig mit großer Freudigkeit, und Freudigkeit ist ganz was anderes als Verdrießlichkeit; sie verhalten sich zueinander wie ein scharfes und ein stumpfes Beil beim Holzhacken. Die Bauern in Rychiswyl hatten große Freude an dem Jungen. Es war keiner, der ihm nicht sagte: “Wenn du Reiser mangelst, so nimm nur in meiner Weid, aber gschände mir die Birken nicht und denk an mein Weibervolk, das braucht dir Besen, es weiß kein Teufel, wie viel das Jahr durch.”
Das tat denn auch Hansli und war den Bäurinnen grusam anständig. Für Besen hatte man kein Geld auszugeben, das Männervolk sollte sie liefern. Nun weiß man, wie das geht, ist dasselbe ja oft zu faul zum Holzspalten, geschweige denn zum Besenmachen. So geschah es denn oft, daß die Weiber in große Besennot kamen, ja daß der Hausfriede mächtig wackelte. Jetzt war Hansli da mit Besen, ehe man dran dachte, und sehr selten geschah es, daß eine Bäurin sagten mußte: “Hansli, vergiß uns nicht, wir sind am letzten!” Zudem waren die Besen gut, ganz anders als die, welche das Mannsvolk mit Unlust zusammengebaggelt, die auseinanderfuhren oder stumpf waren, als wären sie gemacht aus Haferstroh.
Diese Besen gab Hansli natürlich umsonst, und doch waren es nicht die wohlfeilsten, welche aus seinen Händen gingen. Nicht wegen der Birkenreiser, welche er umsonst hatte, sondern wegen der Gaben, welche sie ihm das Jahr durch eintrugen an Brot, Milch und allerlei derart Dinge, welche eine Bäurin zur Hand hat und nichts rechnet. Selten wurde an einem Orte gebuttert, daß es nicht hieß: “Hansli, morgen anken wir, wenn du einen Hafen bringst, kannst Ankenmilch haben.” Obst hatte er mehr, als er brauchte, und Brot brauchte er wenig zu kaufen.
So konnte es nicht fehlen, daß Hansli sich gut stand, denn er war sparsam. Wenn er an den Tagen, wo er in die Städte fuhr, einen Batzen brauchte, so war es viel. Am Morgen sorgte die Mutter dafür, daß er tapfer frühstücken konnte, dann steckte er meist noch etwas zu sich, hie und da kriegte er etwas in einer Küche, wo er wohlbekannt war. Endlich meinte er nicht, es müsse alsbald gegessen sein, wenn es einen gelüste. Hunger haben mache gar nichts, wenn man wisse, wann man zu essen bekomme, es dünke einen nur desto besser. Aber Hunger haben und nicht wissen, ob man je wieder was zu essen kriegt, das tue weh. Das wußte Hansli, daß, sobald er heimkam und seine Sachen geschermt, er essen konnte bis genug, dafür sorgte die Mutter treulich. Sie wußte, was das für eine Bedeutung hat, ob ein Mensch, wenn er heimkommt, zu essen findet oder nicht findet. Wer da weiß, er findet daheim, der kehrt nicht ein, bringt einen leeren Magen heim, und wie er ihn füllt, wird es ihm wohl daheim. Wer nichts findet daheim, fällt draußen und bringt einen vollen Kopf heim, der ist nicht wohl daheim, sondern tut wüste.
Hansli war nicht geizig, aber sehr sparsam, für nützliche, anständige Sachen reute ihn das Geld nicht. In Essen und Kleidern wollte er, daß die Mutter es recht habe, er schaffte sich ein gutes Bett an, große Freude hatte er, wenn er ein schönes, gutes Messer oder ein ander Stück Werkzeug kaufen konnte. Er selbst kam brav daher, nicht kostbar, aber währschaft. Wer ein gutes Auge hat, sieht es den meisten Menschen und Häusern an, ob es da auf- oder abgehe. Bei Hansli war das Aufgehen recht sichtbar, aber eben nicht in der Hoffart, sondern in der Reinlichkeit und Sorgfältigkeit. Daran hatten die Bauern große Freude und mochten es Hansli von Herzen gönnen, kam er doch nicht mit Stehlen zu seiner Sache, sondern durch Fleiß.
Dabei ließ er vom Beten nicht, machte am Sonntag nicht Besen, ging in die Kirche des Morgens, las nachmittags der Mutter, deren Augen stark böseten, ein Kapitel vor und gönnte sich dann später wohl auch ein Privatvergnügen. Dieses bestand darin, daß er sein Geld hervorholte, es zählte und betrachtete und rechnete, wie es gemehret, und wie es noch mehr mehren werde usw. Unter dem Gelde waren schöne Stücke, überhaupt meist sauberes Silbergeld. Hansli war stark auf das Eintauschen, er nahm gerne Münze ein, aber bewahrte sie nicht gerne auf, es dünkte ihn immer, der Wind komme gar zu leicht dahinter und trage sie fort. Die größte Freude hatte er an blanken, neuen Silberstücken, den schönen Bernertalern mit dem Bären und dem stattlichen Schweizermann. Wenn er ein solches erhaschen konnte, war er manchen Tag glücklich.
Er hatte aber auch Verdruß und seine bitterbösen Tage. So zum Beispiel war es ein böser Tag für ihn, wenn er einen Kunden verloren hatte oder verloren glaubte, wenn er gerechnet hatte, in einem Hause ein Dutzend Besen abzusetzen, und mit dem Bescheid: “Sind schon versehen!” barsch abgewiesen wurde. Es war vielleicht eine neue Köchin eingezogen, und die wußte nichts vom bekannten Besenbub und ließ ihre harthölzige Stimme die Treppe herunter erschallen: “Wir mangeln keine!” Nun dachte Hansli nicht an die wahre Ursache, wußte nicht, daß man an Orten mit den Köchinnen wechseln muß wie mit den Hemden, manchmal fast noch öfter. Er meinte dann wunder, was er gefehlt, ob ein Besen nicht recht gebunden gewesen, ob er verleumdet worden? Er nahms sehr zu Herzen, es irrte ihn im Schlafen, er ruhte nicht, bis er den wahren Grund vernommen. Später nahm er es aber auch kaltblütiger, selbst wenn eine Köchin, der er wohl bekannt war, ihn wegschnauzte. Er dachte, Köchinnen seien sozusagen auch Menschen, und wenn Herr oder Madame die Köchin schnauzten, weil sie die Suppe verpfeffert und die Sauce versalzen, dieweil ihr Schatz ins Land gegangen, wo der Pfeffer wächst, so hätte die Köchin auch Menschenrechte und könne wieder andere abschnauzen.
Doch noch bösere Tage machte ihm folgendes, und das lernte er nie kaltblütig nehmen. Seine Birken kannte er nachgerade alle, ja für sich hatte er den Weiden und sogar einzelnen Bäumen bestimmte Namen gegeben, den schönsten Birken schöne Namen, Anne Mareili zum Beispiel, Liseli, Röseli, Sternenblume usw. Diese Bäume freuten ihn das ganze Jahr über, er teilte die Lust, ihnen ihre Reiser abzunehmen, sich ordentlich ein, behandelte die Bäume mit Zärtlichkeit, brachte die Besen von denselben seinen liebsten Kunden. Das waren denn auch wirkliche Staatsbesen, die diesen Namen besser verdienten als mancher andere Besen. Wenn er aber dann voller Freude in die Weide kam und sein Röseli, seine Sternenblume waren greulich gestumpet, der ganze Baum arg mißhandelt, dann tat es ihm im Herzen so weh, das Wasser lief ihm dBacke ab, und vor Zorn ward allmählich sein Blut so heiß, daß man Schwefelhölzer daran hätte entzünden können.
Das machte ihm lange böse Tage, er konnte es nicht verwinden, er trachtete nach nichts, als den Frevler in die Finger zu kriegen, nicht wegen des Wertes der Reiser, sondern weil er ihm seinen Baum geschändet. Hansli war nicht groß, aber er wußte Kraft und Glieder wohl zu brauchen und hatte ein kuraschiertes Herz. Da wars, wo er der Mutter nicht gehorchte, wenn sie ihm um Gottes willen anlag, er solle doch die Sache vergessen, er habe ja Reiser genug, er solle ja nicht nach den Tätern trachten, sie könnten ihn töten oder sonst unglücklich machen. Aber dem allen frug Hansli nichts nach, er lauerte und strich herum, bis er jemand kriegte. Dann gabs Schläge, und mächtige Kämpfe geschahen in den einsamen Weiden. Manchmal siegte Hansli, manchmal kam er gezaust nach Haus.
Aber das gewann er in alle Wege, daß man mehr und mehr seine Weiden in Ruhe ließ, wie es immer geht, wo etwas mit nachhaltiger Tapferkeit verteidigt wird. Warum soll man sich Schlägen aussetzen um etwas, das man anderwärts ohne Gefahr sich verschaffen kann? Zudem hatten die Rychiswyler Bauern Freude an ihrem mutigen kleinen Bannwart. Wurde er einmal gezaust, so sagte ihm wohl der oder dieser: “Es macht nichts, der muß seine Heiligen wiederhaben. Sag es mir, wenn du wieder was merkst, ich will dann auch dabeisein, dem wollen wir das Besenhauen ein für allemal verleiden.”
Dann sagte es Hansli, wenn er was merkte; der Bauer versteckte sich, Hansli tat den Angriff; der Gegner in der Meinung, er sei der Stärkere, floh nicht, wartete, wollte es machen wie das vorige Mal. Hatte Hansli einmal gefaßt, ließ sich der Bauer hervor. Dann wohl, dann hätte der Frevler gerne Fersengeld gegeben, aber Hansli ließ nicht los, er mußte herhalten, bis er den Buckel voll Schläge und den Kopf ohne Haare hatte. Das war ein sehr wirksames Mittel gegen das Birkenplündern, Mareili und Bäbeli blieben nachgerade so ziemlich sicher in den einsamsten Weiden.
So trieb es Hansli manches Jahr in ganz kurzweiliger Einförmigkeit, dachte gar nicht daran, daß es anders gehen könnte. Eine Woche ging ihm um wie der Zeiger an der Uhr, er wußte nicht, wie; ehe er sichs versah, war es Dienstag, wo er nach Bern fuhr; und kaum war der Dienstag zum Loch aus, war der Samstag da, wo er nach Thun mußte, er mochte wollen oder nicht, denn wie hätte man es in Thun machen sollen ohne ihn? Zwischendurch hatte er die Hände voll zu tun, seine Ladungen zu bereiten, Nachbarsleuten zu genügen, das heißt solchen, welche ihm anständig waren. Unser Hansli war auch ein Mensch, und jeder Mensch, wenn er immer dazu kommen mag, hat gnädige und ungnädige Launen. Wer ihn leicht je getreten, der mußte es klug anfangen, wenn er Besen von ihm kriegen wollte. Der Frau Pfarrerin zum Beispiel hätte er nicht für das doppelte Geld einen Besen abgelassen; sie mochte schicken, wann sie wollte, so war es ihm immer leid, daß er keine vorrätig hätte. Sie hatte ihm einmal gesagt, er mache es wie andere, er tue einige lange Reiser außen um, in der Mitte sei dann lauter kurzes Gstümpel. In diesem Falle komme es ja auf eins heraus, ob sie ihre Besen bei ihm oder bei jemand anders nehme, sagte er darauf, und dabei blieb er, und die Frau Pfarrerin starb, ehe sie wieder einen Besen von ihm bekommen hatte.
Eines Dienstages fuhr er wieder auf Bern mit schwer beladenem Karren, den schönsten Besen von seinen liebsten Bäumen, von Röseli, Sternenblume usw. Er zog mit Mühe und schwitzte stark. Er dachte, es sei kurios, sein Karren gehe nicht mehr so von selbst wie anfangs, er müsse gar zu schlimm ziehen, es werde wohl irgendwo fehlen. Er hielt öfters an, um zu Atem zu kommen und die Stirne abzuwischen. Wenn er nur den Stalden auf wäre, der mache ihm Kummer, dachte er. So hielt er auch still beim Murihölzli gerade vor der Leubank. Auf der saß ein Mädchen mit einem Bündelchen neben sich und weinte bitterlich.
Hansli hatte ein gut Herz und fragte: “Was weinst?”
Das Mädchen sagte, es sollte in die Stadt, und es sei ihm so zwider, es dürfe fast nicht. Sein Vater sei ein Schuhmacher und habe seine beste Kundschaft in der Stadt. Da habe es schon lange Schuhe hineingetragen und nicht anders gewußt. Jetzt habe es in der Stadt einen neuen Haschierer gegeben, gar e grusam bösen; der habe es schon mehrere Dienstage, wenn es zum Tore hereingekommen, schrecklich geplagt und ihm gedroht, wenn es noch einmal komme, so nehme er ihm die Schuhe weg, und es müsse ins Gefängnis; es sei verboten, Schuhe in die Stadt zu tragen und damit zu hausieren. Es hätte sagen mögen, was es gewollt, alles habe nichts geholfen. Es habe dem Vater angehalten, er solle es nicht mehr schicken, aber der sei gar ein Exakter und Preußischer, der habe gesagt, es solle nur gehen, er wolle dann schon sehen, wenn man ihm was tue. Aber was ihm das helfe? DSach hätte es dann ausgestanden und die Schande gehabt, daß die Haschierer es genommen.
Hans fühlte großes Mitleiden, besonders weil das Mädchen solch Zutrauen zu ihm hatte und ihm sein Leid geklagt, was es wohl nicht jedem getan. Aber es hab es ihm auf den ersten Blick angesehen, daß er nicht der Wüsteste sei, und was für ein Herz er habe, dachte er. Der gute Hansli! Aber der Glaube mache selig, heißt es.
“Meitschi, da ist dir z’helfe”, sagte er; “gib mit deinen Sack, ich kann ihn zwischen die Besen tun, daß ihn kein Mensch sieht. Ich bin wohlbekannt, da kommt keinen Menschen in Sinn, daß deine Schuhe zwischen meinen Besen sind. Kannst mir sagen, wo ich sie abgeben oder dir warten soll, und von weitem hintendrein gehen, daß es keinem Menschen zSinn kömmt, daß wir etwas miteinander hätten.”
Das Mädchen machte keine Komplimente.
“Wolltest?” frug es mit aufgeheitertem Angesicht, “das ginge mir viel zu gut.”
Es brachte den Bündel, und Hansli barg ihn, daß keine Katze was davon merken konnte.
“Soll dir stoßen oder helfen ziehen?” fragte das Mädchen, als ob es sich von selbst verstehe, daß es das Seine beitrage.
“Wie du lieber willst, eigentlich wärs nicht nötig, gschweret hats wegen der paar Schuhe nicht.”
Anfangs stieß das Mädchen hinten am Karren, doch nicht lange gings, so war es vorne und zog an der Stange. Es dünke ihm, es schicke sich ihm hier besser, sagte es. Es zog brav, man kann sichs denken, und hatte doch noch Atem genug, zu reden und beiher von allem Bericht zu geben, was ihm im Kopf und auf dem Herzen lag. Sie waren oben am äußern Stalden, Hansli wußte nicht, wie; die lange Allee schien ihm um die Hälfte kürzer geworden zu sein. Hier blieb nach getroffener Abrede das Mädchen zurück, und Hansli zog mit Bündel und Besen unangefochten zur Stadt ein, unangefochten gab er dem Mädchen sein Bündel, aber ehe sie noch weiter miteinander gesprochen, ehe das Mädchen gedankt, wurden sie durch die Flut von Leuten, Vieh und Fuhrwerk auseinandergedrängt, Hansli mußte sorgen, daß sein Karren ihm nicht entzweigerissen werde.
Somit war die Bekanntschaft aus. Es ärgerte Hansli ein wenig, doch sann er der Sache nicht weiter nach, geschweige daß er es zu Herzen nahm. Wir können leider nicht sagen, das Mädchen hätte einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn gemacht, es war auch nicht darnach. Es war ein vierschrötig Ding mit breitem Gesicht, ihre größten Schönheiten waren ein gutes, treues Herz und unermüdlicher Fleiß, diese Züge stechen aber gewöhnlich nicht besonders hervor, und viele halten nicht einmal viel darauf.
Am folgenden Dienstag jedoch, als Hansli wieder den Karren zog, kam er ihm sehr schwer vor; er hätte nicht geglaubt, sagte er zu sich selbst, was das mache, wenn zwei dran zögen statt nur eins.
“Ists wohl wieder da?” sagte er, als er gegen das Murihölzli kam, “ich wollte ihm gerne sein Säckli nehmen, wenn es wieder ziehen hülfe; es geht ohnehin nirgends so sauer als von hier bis in die Stadt.”
Und richtig, das Mädchen saß da auf der Leubank wie vor acht Tagen, weinen tat es aber nicht.
“Hast mir wieder was zu laden?” frug Hansli, dem der Karren schon vom bloßen Sehen des Meitschi ganz leicht wurde.
“Es ist mir doch nicht bloß wegen diesem, daß ich da sitze; wenn ich schon nichts in die Stadt zu tragen gehabt, ich wäre gekommen”, antwortete das Mädchen; “konnte dir vor acht Tagen nicht einmal danken und fragen, obs was koste.”
“Das fehle mir noch, gingest mir ja für ein Handroß, und fragte dich auch nicht, was du fürs Ziehen wollest.”
Wie wenn es sich von selbst verstünde, brachte das Mädchen sein Bündel, Hansli barg es, und als ob es es gelernt, stellte sich das Mädchen an die Stange. Es hätte erst gedacht, als es schon von Hause gewesen, es hätte einen Strick mitnehmen sollen, den man hinten am Wagli hätte befestigen können, so könnte es viel mehr abbringen. Das andere Mal aber, wenn es komme, wolle es den Strick nicht vergessen. Dieses Bündnis in betreff gegenseitiger Hülfleistung ging ohne weitläufige diplomatische Verhandlung zu, daß einfacher es wirklich kaum möglich war. Diesmal traf es sich, daß sie auch zusammen heimwanderten, soweit ihre Wege zusammengingen, doch so klug waren beide, daß die Haschierer sie nie zusammen im Tore sahen.
Die Mutter hatte seit einiger Zeit sonderbare Freude an Hansli. Es däuchte sie, er sei so aufgeheitert, sagte sie, er könne den ganzen lieben langen Tag pfeifen oder singen, und er pützerle sich zweg, es habe keine Gattig. Er habe sich letzthin eine halbleinene Kutte machen lassen, er komme darin so staadisch, nit viel gefehlt, wie der Landvogt. Sie möge es ihm aber auch gönnen, er sei so gut gegen sie, der liebe Gott im Himmel wolle es ihm vergelten, sie könne es nicht, sie könne nichts als für ihn beten. Es sei denn aber doch nicht, daß er alles an die Hoffart hänge, er habe Geld auch. Sie glaube gewiß, wenn der das Leben habe und Gottes Segen, der bringe es einmal zu einer Kuh, von einer Geiß habe er schon lange geredet, aber sie werde es nicht erleben, es sei auch nicht, daß sie so dran hange und meine, es müsse sein.
“Mutter”, sagte einmal Hansli, “ich weiß nicht, wie es geht, ob der Karren schwerer wird oder ich schwächer, ich mag ihn seit einiger Zeit fast nicht mehr allein z’regieren, es geht mir hart an, besonders nach Bern hinein, es geht da soviel bergauf.”
“Glaubs wohl”, sagte die Mutter, “warum ladest alle Woche mehr auf, es grusete mir schon manchmal für dich, von wegen das gibt böse Alter. Dem ist aber gut zu helfen, lade drei oder vier Dutzend weniger, dann magst wohl gfahren wie ehedem.”
“Mutter, das kann ich nicht wohl”, sagte Hansli, “habe ohnehin fast immer zu wenig, und zweimal in der Woche zu fahren, habe ich nicht Zeit; Thun will ich auch nicht fahren lassen, habe meine besten Leute dort.”
“Hansli, und wenn du sehen würdest, ein Eselein zu bekommen? Habe schon oft davon gehört, wie das die allerkommodsten Tiere seien, sie kosteten fast nichts, sie fräßen fast nichts und ganz unwerte Sachen, zögen trotz einem Roß, und sogar die Milch könnte man brauchen – nit, daß ich möchte, aber um so zu sagen.”
“Nein, Mutter”, sagte Hansli, “sie sollen auch bsunderbar köpfig sein, so daß man längs Stück nichts mit ihnen machen kann, und für was sollte ich es die fünf anderen Tage brauchen? Nein, aber Mutter, ich hatte an eine Frau gedacht, was sagt Ihr dazu?”
“Aber Hansli, warum nicht lieber an eine Geiß oder an einen Esel, was dir nicht zSinn kommt! Was willst mit einer Frau machen?”
“He, Mutter, öppe was ein anderer”, sagte Hansli, “dann dachte ich, könnte sie mir helfen den Karren ziehen, es ginge mehr als einmal so leicht, wenn mir eine hülfe, und in der Zwischenzeit könnte sie pflanzen und helfen Besen machen, wo man weder eine Geiß noch einen Esel dazu anweisen kann.”
“Aber Hansli, meinst denn, du findest eine, die dir hilft den Karren ziehen, und die für andere Sachen auch noch was nütze ist?” frug bedenklich die Mutter.
“O Mutter, es ist eine, welche mir schon oft geholfen hat den Karren ziehen”, antwortete Hansli, “und die wäre noch für mehr Sachen gut; aber ob sie die Frau werden wolle, habe ich nicht gefragt. Ich dachte, ich wolle es Euch zuerst sagen.”
“Du Dillersbub, was du mir nicht sagst! Jetzt ist mir nicht mehr zu helfen!” rief die Mutter. “Was, bist du auch so einer? Das hätte ich unserm Herrgott nicht geglaubt, wenn er es mir gesagt hätte. Was, eine hat dir am Karren geholfen, und hast sie expreß angestellt dafür? Nein aber, jetzt traue einer noch einem Menschen!”
Da erzählte Hansli die Umstände, wie das so zufällig sich getroffen, und wie das ein Meitschi sei, gerade wie für ihn gemacht, exakt wie eine Uhr, nicht hoffärtig, nicht vertunlich, und ziehen tue es, er wette, ein mittelmäßig Kuhli möchte es nicht. Geredt mit ihm derentwege habe er nicht, aber er glaube, unanständig sei es ihm nicht. Es habe oft gesagt, z’heiraten pressiere es ihm aparti nicht, aber, wenns es zu machen sehe, daß es nicht noch böser es haben müßte als jetzt, da besänne es sich nicht lang und täts. Es wüßte doch dann auch, für was es auf der Welt wäre. Die jüngeren Geschwister wüchsen nach, und es wisse wohl, wie das gehe, die jüngeren seien immer werter als die älteren, und man sinne den älteren nicht daran, daß sie die jüngeren haben nachschleppen müssen.
Das gefiel der Mutter nicht schlecht, und je mehr sie das Unerwartete verwand und über die Sache nachdachte, desto anständiger kam es ihr vor. Sie legte sich auf Nachricht an und vernahm: Schlechtes wisse man nicht von ihm, es gehe den Eltern brav an die Hand; daneben z’fischen werde es da nicht viel geben. He nun so dann, desto besser! dachte die Mutter, so hat doch dann keins dem anderen was vorzuhalten.
Als am Dienstag Hansli den Karren rüstete, sagte ihm die Mutter: “He nun so dann, so red mit dem Meitli! Wenn es will, mir ists recht, aber nachlaufe tue ich ihm nicht, es soll am Sonntag zu uns kommen, so kann ich es gschauen, und man kann miteinander reden. Wenns gattlig tun will, so wird es schon gut kommen, einmal wird es doch sein müssen.”
“He, Mutter, das steht nirgends geschrieben, daß es sein müsse; ists Euch nicht anständig, so kann man es ja unterwegen lassen”, entgegnete Hansli.
“Stürm nur nit und fahr du jetzt und sag dem Meitli, wenn es mich für die Mutter halten wolle, so solle es mir Gottwillche sein!”
Hansli fuhr und fand sein Meitschi, und als Hansli in der Stange, das Meitschi jetzt am Strick wacker zogen, sagte er: “Es geht doch mehr als dsHalb ringer, wenn zwei einander helfen und am gleichen Karren ziehen. Ich war am letzten Samstag in Thun und mußte mich fast töten.”
“Habe es schon oft gedacht”, sagte das Meitschi, “es sei einfältig von dir, daß du nicht jemand anstellest; es ging dir alles halb so leicht, und der Verdienst wär größer.”
“Was willst”, sagte Hansli, “bald sinnet man zu früh auf eine Sache, bald zu spät, man ist halt gäng e Mensch. Aber jetzt däucht es mich, ich möchte eine anstellen; wenn du wolltest, du wärst mir gerade recht. Ich wollte dich heiraten, wenn es dir anständig ist.”
“He, warum nicht, wenn ich dir nicht z’wüst und z’arm bin”, antwortete das Meitschi. “Hast mich einmal, so nützt dich dann das Verachten nichts mehr. Ich werde es auch nie viel besser treffen; öppe einen bekömmt man immer, aber dann was für einen? Mir bist brav genug, hast Sorg zur Sache und wirst e Frau nit für e Hund haben.”
“He, sie kann es haben wie ich, und ist ihr das nicht gut genug, so kann ich nicht helfen”, antwortete Hansli. “Aber ich denke, schlimmer, als dus bisher gehabt, würdest du es bei mir nicht haben. Ists dir recht so, so sollst am Sonntag zu uns kommen, die Mutter läßt dir sagen, du sollest Gottwillche sein, wenn du sie für die Mutter halten wolltest.”
“He”, sagte das Meitschi, “was sollte ich anders, bins gewohnt, die Mutter für die Mutter zu halten, mich zu unterziehen und es anzunehmen, wie es kömmt, böser und minder böse, sauer und minder sauer. Habe nie geglaubt, ein böses Wort mache ein Loch, da hätte ich ja kein Stück Haut einen Kreuzer groß am ganzen Leib.”
Daneben wolle es wie üblich und bräuchlich, Vater und Mutter vorbehalten haben. Daneben werden die nichts dagegen haben, es seien ihrer noch genug daheim, und sie würden froh sein, vorabzustoßen, was gehen wolle.
So war es auch. Am Sonntag erschien das Meitschi richtig zu Rychiswyl. Hansli hatte es gut brichtet, so daß es nicht lange zu fragen brauchte, wo der Besenbinder wohne. Die Mutter examinierte es gut über Pflanzen und Kochen, wollte wissen, was es bete, und ob es lesen könne im Testament und auch in der Bibel. Es sei für die Kinder bös, und die hätten sich dessen zu entgelten, wenn eine Mutter sich nicht darauf verstehe, sagte die Alte. Ihr gefiel das Meitschi, und die Sach ward richtig.
“Eine Schöne hast nicht”, sagte sie vor dem Meitschi zu Hansli, “und wegen Reichtum wirst auch nicht viel zu rühmen haben. Daneben macht das nichts; von der Hübschi hat man nicht gelebt, und mit dem Reichtum ward schon mancher angeschmiert, daß er meinte, wie eine Reiche er habe, und hintendrein konnte er dem Schwäher die Schulden zahlen. Wenns gsunder Art ist und werkbar, so wird die Sache sich schon machen. Ein paar gute Hemli und eine doppelte Kleidung, daß du am Sonntag und Werktag nicht gleich daherkommen mußt, sondern dich anders anziehen kannst, wirst du wohl haben.”
“Bhütis ja!” sagte das Meitschi, “wegen selbem braucht Ihr keinen Kummer zu haben. Ich habe ein ganz neues Hemd, zwei ganz gute und dann noch viere, die aber nicht mehr alles sind. Aber die Mutter hat gesagt, ich müsse noch eins haben, und der Vater hat gesagt, er wolle mir die Hochzeitsschuhe machen, und sie sollen nichts kosten. Dann habe ich noch eine bsonderbar gute Pate, die gibt mir allweg auch etwas Schönes, vielleicht gar ein Pfänneli oder ein Breitöpfi, und wer weiß, obs da nicht einmal was zu erben gibt? Sie hat zwar Kinder, aber die könnten sterben.”
Gegenseitig vollkommen befriedigt, besonders von des Mädchens Seite, welchem die Wohnung, die sauber gehalten war, neben ihrem Schuhmacherloch voll Leder, Leisten und Kinder wie ein Palast vorkam, gingen sie auseinander, um bald wieder zusammenzukommen und zusammenzubleiben. So geschah es auch, Einspruch gab es keinen, die Vorbereitungen nahmen ebenfalls nicht Monate weg, neue Schuhe und ein neues Hemd sind bald gemacht, wenn man nämlich die Sachen dazu hat, und nach vier Wochen zog Hansli zu zwei den Karren nach Thun, und kurios war es, der alte Karren ging wieder ganz leicht und wie von selbst. Er hätte nicht geglaubt, daß ein Karren sich so zum Guten ändern könnte, es könnte mancher Mensch an ihm ein Exempel nehmen.
Um Hansli reute es manches Mädchen. Den hätte es auch mögen, dachte es; wenn es geglaubt, dem pressiere es, so hätte es ihm schon in den Weg kommen wollen, daß er das Plättergesicht nicht mit dem Rücken angesehen. Es hätte nicht geglaubt, daß Hansli so dumm wäre, der hätte ganz anders weiben können, wenn er es gewußt hätte anzustellen; der werde noch reuig werden vor der nächsten Fastnacht, aber es möge es ihm gönnen, “selber tan, selber han.” Aber Hansli war nicht so dumm und ward nicht reuig, er hatte grade ein Fraueli, wie es für ihn paßte, ein demütiges, arbeitsames, genügsames Fraueli, dem es bei Hansli war, als hätte es den Himmel erheiratet.
Gar lange freilich half es dem Hansli den Karren nicht ziehen, der mußte bald wieder einspännig fahren. Aber als einmal ein Bube da war, tröstete er sich; ein sonderbar munterer sei er, sagte er, im Hui sei der nachgewachsen, daß er ihm helfen könne, und unversehens ziehe der den Karren alleine. Sein Fraueli wollte zwar bald wieder sich einspannen. Wenn sie sich pressierten mit dem Heimkommen, so möge es der Bub wohl aushalten, die Großmutter gebe ihm unterdessen schon zu trinken, meinte es. Aber der Bub meinte es anders, wohl, der machte ihnen den Marsch.
Sie hatten sehr pressiert mit dem Heimfahren, aber noch waren sie mehr als eine halbe Stunde vom Hause entfernt, als das Fraueli ausrief: “Mein Gott, was hört man?”
Es waren Töne, als ob man ein junges Schwein am Messer hätte.
“Mein Gott, was ist dort, was hats gegeben!” rief wiederum das Fraueli, ließ den Karren fahren und lief davon. Es war die Großmutter, welcher der Bub mit Brüllen den Angstschweiß ausgetrieben, und die sich nicht anders zu helfen wußte, als ihn der Mutter entgegenzutragen in tausend Ängsten, er falle in Krämpfe. Der schwere Bub, die Angst und das Laufen hatten die alte Frau so außer Atem gebracht, daß es die höchste Zeit war, daß jemand ihr den Bub abnahm.
Sie war außer sich, und lange gings, bis sie sagen konnte: “Nein, so will ich nicht dabeisein, so einen handlichen habe ich mein Lebtag nie gesehen, lieber will ich den Karren ziehen.”
Die guten Leute erfuhren es, was es heißt, einen Zwingherrn im Hause zu haben, wenn es auch nur ein kleiner war. Das tat aber ihrem Haushalt keinen Abbruch, das Fraueli wartete verzweifelt brav daheim, pflanzte viel, half Besen machen, überstürzte nichts, aber machte immer was, als ob es nie müde würde, und alles ging ihm flink von der Hand. Hansli war ganz verwundert, wie gut er zwegkam mit einer Frau, und wie sein Geld sich mehrte. Er empfing ein Ackerli, die Mutter erlebte eine Geiß, als käme sie von selbst, und bald zwei. Eseli wollte Hansli keins, aber er mußte sich mit dem Müller, der in die Stadt fuhr, verbinden, um einen Teil seiner Besen führen zu lassen, was freilich den Profit etwas schmälerte und Hansli sehr reute, denn jeder Kreuzer tat ihm weh, der nebenausging.
Hanslis Leben gestaltete sich wiederum glatt und eben, die Tage folgten einander ungefähr wie die Wellen im Fluß, eine von der anderen kaum zu unterscheiden. Die Besenreiser wuchsen alle Jahre, seine Frau brachte fast alle Jahre ihm ein Kind, ohne daß es sie viel irrte. Sie bekam es, legte es ab, es schrie alle Tage ein wenig, es wuchs alle Tage ein wenig, und handumkehrt konnte man es schon brauchen. Die Mutter sagte, sie sei alt und habe das nie so gesehen. Sie mahnten sie an nichts besser als an junge Katzen, die nach sechs Wochen schon mausen könnten.
Und mit den Kindern war der Segen da, je mehr Kinder, desto mehr Geld. Ja, man denke, die Mutter erlebte die Kuh noch. Wenn sie aber nicht gesehen hätte, wie Hansli sie bezahlt, sie hätte sich kaum ausreden lassen, er habe sie gestohlen.
Und hätte die Mutter noch zwei Jahre länger gelebt, so hätte sie erlebt, das Hansli Eigentümer wurde des Häuschens, in welchem sie seit Jahren gewohnt, mit einer Taglöhnergerechtsame, welche ihnen mehr als genug Holz brachte und Land wohl für eine Kuh und zwei Schafe, welche besonders kommod sind, wenn man Kinder hat, welche wollene Strümpfe brauchen. Hansli blieb freilich ziemlich viel darauf schuldig, aber es war festes Geld, welches ihm stehenblieb, solange er fleißig zinsete. Übrigens machten ihm, wenn er das Leben hätte, die Schulden keinen Kummer, sagte er, und er hatte recht.
Hansli erfuhr es, wie die ersten Kreuzer zu erübrigen am schwersten hält. Es ist immer ein Loch da, durch welches sie entschlüpfen wollen, oder ein Mund, der sie verschlingen will. Ist einmal nachgewerchet, daß man ohne Schulden ist, mit ganzen Kleidern behaftet und ohne was vorgefressen zu haben, dann geht es schon. Es bildet sich der Boden unter den Füßen, es zaunet immer besser, der Bach breitet, das heißt, das Vorschlagen wird leichter und größer, wenn nämlich eins nicht ist: wenn sich die Lebensweise nicht ändert. Da liegen Klippe und Sandbank nebeneinander, und die Durchfahrt ist merkwürdig schmal. Da wachsen gerne aus dem Boden herauf die Bedürfnisse über Nacht wie Schwämme auf dem Mist, und wenn nicht beim Mann, so doch beim Weib, und wenn nicht bei den Eltern, so doch bei den Kindern. Auf einmal sind hundert Dinge nötig, an die man nicht gedacht, und anderer schämt man sich, wo man nichts anderes gewußt. Man überschätzt, was man hat, weil man vorher nichts gehabt, überschätzt sich, weil man das Gedeihen sich selbst zuschreibt, überschätzt seine Zukunft, weil man sie für notwendige Fortsetzung der Vergangenheit hält, und ändert die ganze Lebensweise. Im Verhältnis, daß der Verbrauch zunimmt, nimmt der Fleiß ab und somit der Erwerb, und wie man aufgeschossen, fällt man wieder. Die Herrlichkeit vergeht, wie sie gekommen, denn es ist noch immer wie ehedem: “Der Hochmut kommt vor dem Fall.”
Das war nun bei Hansli aber nicht. Er lebte und schaffte durchaus im gleichen fort, vertat fast kein Geld, freute sich dann aber auch, daheim was Warmes zu finden, und tat sich daran gütlich. Es änderte nichts, als daß nach und nach die schaffenden Kräfte sich mehrten. Das Fraueli besaß, sich selbst ganz unbewußt, die merkwürdige, seltene Kunst, die Kinder alsbald zu gebrauchen, sie sich selbst helfen zu lehren jedes nach seinem Alter und das ganz und ohne viel Redens, es wußte selbst nicht, wie es das machte. Ein Pädagog hätte sicherlich darüber kein vernünftig Wort von ihm herausgebracht. Sie warteten sich gegenseitig, halfen dem Vater mit dem Besenmachen, der Mutter trugen sie ab und zu, halfen beim Pflanzen, keines bekam eine Ahnung von der Süßigkeit des Müßigganges, des träumerischen Herumlungerns, und doch wurde keines strapaziert oder vernachlässigt mit Speise oder Unreinlichkeit. Sie wuchsen wie die Weiden am Bach, waren gesund und froh. Die Eltern hatten nicht Zeit, mit den Kindern Narretei zu treiben, aber die Kinder fühlten die Liebe der Eltern, sahen, daß sie mit ihnen zufrieden waren, wenn sie ihre Sache gut machten. Die Eltern beteten mit ihnen, und am Sonntag las der Vater sein Kapitel und erklärte, was er wußte, und derentwegen hatten die Kinder großen Respekt vor ihm, betrachteten ihn wirklich als den Hausvater, der mit Gott rede und, wenn sie nicht gehorchten, es Gott sage und dem Heiland. Der wahre Respekt der Kinder vor den Eltern hängt ganz bestimmt vom Verhältnis der Eltern zu Gott ab, wie es die Kinder wahrnehmen können. Wenn das nur alle Eltern bedächten!
Ja, unser Hansli war selbst unter andern Leuten als nur unter den Kindern eine Art Respektsperson. Er war so bestimmt, so zuverlässig, gescheute Worte gingen von ihm, man sah ihn niemals anders als ehrbar, er tat nicht groß, machte aber auch nicht den Bettler, daß gar manche vornehme Herrenfrau expreß in die Küche kam, wenn sie hörte, das Besenmannli sei da, um zu vernehmen, wie es auf dem Lande gehe, und wie dies und jenes gerate. Ja in manchem Hause in Bern vertraute man ihm das Liefern von Wintervorräten an, und das trug manchen schönen Batzen ein. In Thun war das wohl nicht der Fall, denn dort ist jede Frau Ratsherrin eine halbe Bäurin und pflanzet für Menschen und Vieh, daß es sie fast versprengt. Aber sie kamen doch in die Küche, hießen ihn gar in die Stube kommen und verklapperten mit ihm manch trautes Halbstündchen bei süßem Thunerwein. Denn wenn sie schon selbst pflanzten, so meinten sie deswegen nicht, daß sie nicht das Recht hätten zu klappern, mit wem sie wollten, so gut wie die andern Frauen Ratsherrinnen, welche nicht pflanzten. Ja sogar die Frau Schultheißin sprach mit ihm, es war sozusagen ihr zum dringenden Bedürfnis geworden, ihn alle Samstage zu sehen, und wenn sie mit ihm sprach, so war es sogar erlebt worden, daß der fragende Herr Schultheiß auf Antwort warten mußte. Von wegen es tut auch einer Frau Schultheißin wohl, einmal in der Woche ein vernünftig Wort zu hören und zu reden.
Da einmal geschah es, daß Samstag war in Thun, aber in Thun war kein Besenmannli zu sehen. Das gab großes Aufsehen und bedenkliche Gesichter. Manche Köchin stand unter der Türe mit eingestemmten Armen und ließ kaltblütig oben in der Küche Suppe und Pfanne ineinanderwachsen, daß man mit keinem Lieb sie mehr auseinanderbrachte. “Hast ihn nicht gesehen, nichts von ihm gehört?” frug eine die andere. Manche Frau schoß in die Küche und wollte die Köchin abputzen, daß sie ihr nicht gerufen, als das Besenmannli dagewesen. Aber da fand sie keine Köchin, fand nichts als was auf dem Feuer, das stank wie der Teufel, das war die Pfanne und die Suppe, die Hochzeit hielten. Selbst die Frau Schultheißin kam in Bewegung, nahm erst ihren Herrn, dann den Landjäger vor, und als beide nichts wußten, stieg sie nach dem Essen selbst ins Städtchen hinab, um nach ihrem Besenmannli zu fragen. Sie sei ganz aus mit Besen, habe in der folgenden Woche fegen wollen und jetzt keine Besen, man solle denken!
Aber das Besenmannli erschien nicht. Es war die ganze folgende Woche eine gewisse Leere fühlbar in der Stadt und am nächsten Samstag große Spannung. “Kommt er? Kommt er nicht?” war das Losungswort. Und er kam, er kam wirklich, aber ringer wäre er daheim geblieben. Wenn er auf alle Fragen hätte Antwort geben wollen, so hätte er acht Tage in Thun bleiben müssen. Er fertigte die Leute mit dem einfachen Bescheid ab, er hätte zLycht müssen.
“Wem?” frug ihn die Frau Schultheißin, die er nicht so kurz abfertigen konnte.
“Meiner Schwester”, antwortete das Besenmannli.
“Wer war sie, und wo wurde sie begraben?” frug die Dame weiter.
Das Besenmannli antwortete kurz, aber wahr; da rief die Frau Schultheißin plötzlich aus: “Aber mein Gott! Was? Seid Ihr der Bruder von der Köchin, die so großes Aufsehen machte, weil es nach dem Tode des Herrn sich herausgestellt, daß sie seine Frau gewesen und ihn also erbe, und die dann darauf plötzlich starb?”
“Gerade der bin ich”, antwortete Hansli trocken.
“Aber du meine Güte!” rief die Frau Schultheißin und schlug die Hände zusammen, “fünfzigtausend Taler geerbt zum wenigsten und jetzt noch mit Besen im Lande herumfahren!”
“Warum nicht!” antwortete Hansli, “habe das Geld noch nicht, und wegen der Taube auf dem Dache lasse ich den Spatz in der Hand nicht fahren.”
“Taube auf dem Dache!” rief unwillig die Frau Schultheißin. “Erst diesen Morgen habe ich und der Herr Schultheiß miteinander darüber geredet, und er sagte, dSach sei richtig, das Vermögen müsse dem Bruder zufallen.”
“He nun, desto besser”, antwortete Hansli. “Aber, was ich fragen wollte, soll ich über acht Tage Besen bringen oder über vierzehn?”
“A bah, Besen!” rief die Frau Schultheißin; “kommt herein, ich möchte sehen, was mein Herr für Augen macht.”
“Ich wär pressiert”, antwortete Hansli, “ich habe weit heim, und die Tage sind kurz.”
“Kurz oder nicht kurz, kommt!” befahl die Herrin, und Hansli mußte gehorchen, versteht sich.
Sie führte ihn nicht in die Küche, sondern ins Eßzimmer, befahl der Gattung oder Fanchette, oder wie die Kammermagd hieß, dem Herrn zu sagen, das Besenmannli sei da, und eine Flasche Wein zu bringen, und hieß das Mannli sitzen, wie auch das Mannli protestierte, er habe nicht Zeit und müsse weiter. Der Herr war da im Augenblick, setzte sich, schenkte sich auch Wein ein, machte Gesundheit, wünschte Glück, und Hansli mußte erzählen, wie er dazu gekommen.
Er machte es kurz. Er könne nicht viel sagen, erzählte er. Bald, als die Schwester vorm Herrn gewesen, sei sie fortgegangen um Arbeit aus. So sei sie von Platz zu Platz gekommen und stark gefördert worden mit Schein. Um sie daheim habe sie sich nie viel gekümmert, sei in der Zeit bloß zweimal heimgewesen und seit der Mutter Tode nie. Er habe sie wohl in Bern angetroffen, aber nie habe sie ihn heißen ins Haus kommen, wo sie gedient, nichts als den Gruß befohlen an Weib und Kinder und wohl gesagt, sie komme nächstens, aber es sei nie geschehen. Freilich sei sie nicht viel in Bern gewesen, sondern habe viel in Schlössern auf dem Lande herum gedient, sei auch im Welschland gewesen, wie er vernommen. Sie habe ein unruhig Blut gehabt und einen wunderlichen Kopf, und die blieben nie lange an einem Orte. Darneben war sie bsunderbar treu und fromm, man konnte ihr unbesorgt anvertrauen, was man wollte. Vor kurzem sei die Rede gegangen, seine Schwester habe eine alten, reichen Herrn geheiratet, der es den Verwandten zum Trotz getan, weil sie ihn schwer erzürnt, aber er habe der Sache nicht viel Glauben gegeben und ihr nicht nachgedacht. Da habe er plötzlich Bescheid bekommen, er solle alsbald zu seiner Schwester gehen, wenn er sie noch lebendig antreffen wolle, sie wohne im Murtenbiet; das habe er getan und sei noch früh genug gekommen, um sie sterben zu sehen, aber viel habe er mit ihr nicht mehr reden können. Als sie beerdigt gewesen, sei er wieder hergekommen, es habe ihm pressiert; seit er hause, habe er nie soviel Zeit versäumt.
“Du mein Gott”, sagte die Frau Schultheiß, “versäumt, wenn man dabei fünfzigtausend Taler erbt! Und wollet Ihr denn bei einem solchen Vermögen fortfahren Besen machen und damit hausieren?”
“He, das ist so, Frau Schultheißin”, sagte Hansli, “ich traue der Sache nicht recht, es dünkt mich, es hätte keine Gattig, daß ich soviel erben sollte. Daneben sagt man mir, es könne nicht fehlen, und wenn die Zeit um sei, werde ich es frei und frank in die Hände bekommen. Nun, sei das, wie es wolle, so fahre ich einstweilen im alten fort. Wenn es fehlen sollte, müßten die Leute nicht lachen: ›Der hat schon gemeint, er sei ein Herr, und kann schön wieder an seinem Karren ziehen!‹ Habe ich einmal das Geld, werde ich es mit den Besen wohl lassen, obgleich es mich reut und mir nicht erleidet ist. Aber die Leute würden doch reden und ein Gespött haben, wenn ich es täte, und das mag ich auch nicht. Bauer sein ist auch eine schöne Sache, und wenn man Geld hat, wird schon ein Hof zu kaufen sein. Ich habe gottlob ein Häuschen und Land fast für zwei Kühe, und bei meinem Fahren habe ich manchmal gedacht: Wäre ich nicht das Besenmannli, so möchte ich Bauer sein! und vielleicht brächte ich es zweg, so einen mindern Hof zu kaufen, wo für alle meine Kinder zu arbeiten und zu essen genug wäre; fest kann man dann sitzen.”
“Aber ist das Vermögen in saubern Händen? Können da keine Gefährde getrieben werden?” frug der Herr Schultheiß.
“Ich glaube, es sei sicher”, sagte Hansli. “Ich habe die, welche am meisten dran machen können, probiert. Ich habe ihnen Geld angeboten, wenn sie machten, daß ich zum Erben komme. Da haben sie gescholten und gesagt, ghörs mir, werde ich es erhalten, ghörs mir nit, mache man da nichts mit Geld, für die Kosten werde man mir seinerzeit die Rechnung machen. Da sah ich, daß die Sache am rechten Orte ist, und mag jetzt wohl warten, bis die Zeit um ist.”
“Nein aber”, sagte die Frau Schultheißin, “das ist mir unbegreiflich; das ist mir eine Kaltblütigkeit, die in Israel selten gefunden wird, die mich aus der Haut triebe, wenn ich Eure Frau wäre.”
“Die tut es nicht”, sagte Hansli, “bis sie jemand brichtet, wie sie wieder hineinkönnte.”
Diese Kaltblütigkeit und das Fortfahren mit den Besen versöhnte viele Leute mit dem sonst so gerne beneideten sogenannten Glücklichen, während andere es als Beschränktheit und Dummheit verhöhnten. Einige meinten, Hansli sei dumm, und wer gescheut sei, könne da was zu fischen kriegen. Sie liefen ihn an, suchten ihm angst zu machen und hintendrein mit dem Anbieten ihrer Hülfe zu trösten. Andere wollten das Erbe ihm abkaufen, er kriege es doch nie, sagten sie. Es gebe da Prozesse, deren Ausgang er nicht erlebe; wo da Geld nehmen, um sie zu speisen? He, sagte Hansli, es sei alles ungewiß auf der Welt, einstweilen wolle er sich noch besinnen, es sei dann noch frühe genug zuzusehen, wenn die Sache sich stecken sollte.
Die Sache steckte sich aber nicht. Zur gesetzten Zeit erhielt er Bericht, er solle auf Bern kommen; dSach sei im reinen.
Als er als ein reicher Mann heimkam, weinte seine Frau gar mörderlich und himmelschreiend. Er mußte mehrmals fragen: “Was hats gegeben, ist ein Unglück geschehen?”
“Jetzt”, sagte endlich die Frau, die, je seltener sie weinte, um so schwerer zu sich selber kam, “jetzt wirst mich verachten, da du so reich bist, und denken, hättest nur eine andere! Ich tat, was mir möglich war, aber jetzt bin ich nichts mehr, ein alter Kratten. Oh, wenn ich nur schon unter der Erde wäre!”
Da setzte sich Hansli auf den Vorstuhl und sagte: “Hör, Frau, du weißt, fast dreißig Jahre haben wir gehaushaltet im Frieden; was das eine wollte, wollte das andere auch. Geprügelt habe ich dich nie, ja die bösen Worte, die wir uns gegeben, wären bald gezählt. Jetzt, Frau, fang mir nicht an, wüst zu tun und ein Neues anzufangen, es soll zwischen uns beim alten bleiben. Das Erb kommt nicht von mir, es kommt nicht von dir, es kommt von Gott für uns beide und für unsere Kinder. Das kann ich dir sagen, und das soll fest sein wie ein Wort aus der Bibel, daß, sobald du mir noch einmal davon anfängst mit Heulen und ohne Heulen, so prügle ich dich mit einem neuen Seil, daß man dich am Bodensee kann schreien hören. Dabei bleibts; jetzt mach, was du willst!”
Das lautete sehr bestimmt, bestimmter als der Briefwechsel zwischen Preußen und Österreich. Die Frau wußte, woran sie war, sie kannte Hansli, sie wärmte dieses Lied nicht mehr auf, es blieb unter ihnen beim alten. Sie zogen einträchtig am Karren, und der Karren blieb ganz leicht.
Hansli kaufte alsbald einen großen Hof, damit er für seine Kinder zu arbeiten und zu essen hätte. Aber ehe er als Besenmannli abtrat, machte er noch ein schön Stücklein: allen seinen Kunden brachte er noch ein Dutzend Besen als Geschenk ins Haus. Er sagte nachher oft und gewöhnlich mit Wasser in den Augen, das sei der Tag, den er am wenigsten vergessen könne; er hätte nie geglaubt, daß er den Leuten so lieb sei. Er behielt als Bauer den gleichen Fleiß und die gleiche Einfachheit, betete und arbeitete wie vorher, und doch wußte er zwischen Bauer und Besenbinder den Unterschied zu machen, daß der erste zu geben, der andere zu nehmen hatte, tat beides gleich unbeschwert. Er hatte längst gewußt, was einem Bauernhause wohl anstehe, das vergaß er nicht und führte es jetzt in seinem Hause aus. Was er gerne gehabt für sich, das tat er auch an andern.
Das gleiche Maß hielt er mit den Kindern, das war wohl der schwerste Punkt. Er wußte wohl, daß er sie jetzt etwas besser kleiden mußte als des Besenbinders Kinder, aber den ebenrechten Grad darin zu treffen, war nicht ganz leicht; nicht leicht war es, die Kinder zu befriedigen und es dem Publikum zu treffen, daß es nicht schrie über das Zuwenig oder das Zuviel. Hansli traf es nicht übel, und seine Frau stimmte ihm bei. Sie kleideten ihre Kinder dauerhaft und stattlich, meist in selbstgemachtes Zeug, aber er duldete nichts Auffallendes, in die Augen Schreiendes an ihnen.
Er sagte ihnen oft: “Kinder, tut nicht groß, machet nie den Narrn, sei es, mit was es wolle. Sobald eins von euch die Leute ärgert, sei es mit diesem oder mit jenem, so zählt darauf, ihr müßt von allen Seiten hören: ›Das mag wohl, es ist ja des Besenbinders Kind; der zöge noch am Karren, wenn er nicht geerbt. Es wäre noch mancher reich, wenn er es erben könnte, das ist keine Kunst.‹ Ich schäme mich mein Lebtag dessen nicht, es kann mir Besenbinder sagen, wer will, aber ich bin auch nicht hochmütig; werdet ihr es aber, so werdet ihr euch des Vaters und der Mutter schämen, und die Leute werden euch den Besenbinder vorhalten euer Leben lang. Darauf zählt!”
Die Kinder glaubten daran und taten darnach. Indessen wollen wir nicht sagen, daß Eltern und Kinder alle Färbung ihrer frühern Lebensweise hätten abstreifen können und immer ganz fest und sicher auf dem neuen Boden umhergeschritten wären, das ist wohl unmöglich, und es braucht Generationen, um in einen neuen Stand hineinzuleben, und je ängstlicher man es will, je verlegner man tut, was jedoch bei unserm Besenbinder nicht der Fall war, desto weniger gelingt es.
Der liebe Gott ließ sie lange leben, er gab ihnen noch die Freude zu sehen, wie brave Tochtermänner mit ihren Weibern wohlzufrieden waren und brave Söhnisweiber die Eltern um ihrer braven Männer willen liebten und ehrten, und wenn sie noch jetzt auf Erden wären, so würden sie sehen, wie die Familie Wurzel geschlagen, blüht und Früchte trägt unter den Ehrbaren des Landes, denn sie bewahrt noch jetzt die wahren Lebenskeime der Familie: Fleiß und Frömmigkeit, ein währschaft, kernhaft Wesen, das nicht alle Tage ein anderes wird, je nachdem der Wind geht und die Umstände wechseln.
Jeremias Gotthelf